Sonntag, 13. Dezember 2020

Blindflug

Mit nahezu dreister Konsequenz werden täglich die vom RKI gemeldeten Infektionszahlen kommuniziert, analysiert, Kaffeesatz gelesen. Dabei liegen diese Zahlen vermutlich um ein Vielfaches daneben. 

Wir hatten im November mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die vom RKI berichteten 10'000 - 20'000 Infizierten pro Tag in Deutschland, sondern ein Vielfaches davon. Es müssen um die 60'000 bis 160'000 Infizierte pro Tag gewesen sein. 

Denn: Mittlerweile haben wir recht robuste Zahlen bzgl. der Letalität von COVID-19. In einer Mitte Oktober veröffentlichten Metastudie der WHO wurde die Letalität aus 61 Studien rund um den Globus ermittelt. Der Median für die Letalität liegt bei 0,27 %. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass Deutschland ein zumindest durchschnittliches Gesundheitssystem hat, darf man diesen Wert auch für dort annehmen. Zumindest sollte er nicht höher sein. 

Es starben im November leider oft mehrere hundert Menschen pro Tag mit COVID-19. Das heisst zwangsläufig, dass dem vor ca. 18 Tagen (durchschnittliche Dauer der Erkrankung bei Todesfällen) besagte 60'000 bis 160'000 Infizierte pro Tag gegenüberzustellen sind. Sonst könnte es nicht so viele Tote geben.

Es haut mich schlicht um, dass dies nicht wenigstens im Nebensatz erwähnt wird. Entweder glaubt man der wissenschaftlich recht robust ermittelten Letalität der WHO nicht - das sagt aber niemand so klar und bietet alternative, wissenschaftlich ermittelte Zahlen -, oder die dem RKI gemeldeten Infektionszahlen sind dramatisch zu niedrig.

Das ist kein Vorwurf an das RKI bzgl. der gemeldeten Zahlen. Man kann ja nur wissen, was man weiss. Aber diese Zahlen gehören qualifiziert. Die Dunkelziffer ist riesig. Und das muss doch prominent erwähnt werden. Wir sehen vermutlich nur einen Bruchteil vom Eisberg. Jegliche Analyse von Trends, von R-Werten und dgl. muss doch dann mit grösster Vorsicht vorgenommen werden. Denn wir finden nur die wenigsten Infizierten und es kann gigantische Fehlermargen geben.

Genauso falsch ist, wenn Kanzlerin und Ministerpräsidenten davon sprechen, dass der November-Lockdown ein Teil-Erfolg war, weil man das Wachstum zum Halten gebracht hat, ein Plateau zumindest geschaffen. Hat man wohl eher nicht. Man kann es über die gleiche Methode ableiten. Wenn man die Toten pro Tag als Basis nimmt und hochrechnet, also daraus die vor um die 18 Tage zuvor Infizierten ableitet, sieht man kein Plateau. Die Zahl der Infizierten stieg vielmehr über den ganzen November, siehe blaue Linie in der folgenden Grafik:


Wer die Werte überprüfen will, hier die zugrundeliegende Tabelle:


Grün hinterlegt die vom RKI berichteten Fallzahlen, blau hinterlegt meine Berechnung der Infiziertenzahlen über die Letalität hochgerechnet. Man möge mich gern kontaktieren, wenn ich einen Fehler gemacht haben sollte. Ich denke aber, die Zahlen sind robust. 

Ich möchte niemandem etwas Böses unterstellen. Ich bin überzeugt, die Entscheider an den entsprechenden Orten wollen die Pandemie mit besten Kräften bekämpfen. Aber es wird kein reiner Wein eingeschenkt. Man macht sich nicht die Mühe, echte Transparenz zu schaffen.

Ähnlich der Umgang mit dem Musterknaben Tübingen. Es lässt sich wirklich sehen, was diese Stadt erreicht hat. Über Wochen kein Infizierter über 75 Jahre, keine überlasteten Krankenhäuser, eine diesbezüglich wirklich stabile Situation. Tübingen ist nicht coronafrei. Aber das ist vielleicht ja auch gar kein mögliches Ziel. Tübingen hat aber einen Weg gefunden, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Dort hat man analysiert, wo das zentrale Problem ist. COVID-19 stellt eine besonders grosse Gefahr für ältere Menschen dar. Gemäss Boris Palmer, dem Bürgermeister von Tübingen, ist die Gefahr eines 80-jährigen 3000 mal so gross wie die eines 20-jährigen. Das heisst nicht, dass der 20-jährige einfach tun und lassen kann, was er will. Aber es ist doch klar, dass wir die Älteren besonders gut schützen müssen. Und das macht Tübingen hervorragend. Gratis FFP2-Masken, Taxifahrten für ältere Menschen zum ÖV-Tarif, Einkaufen vormittags exklusiv für über 65jährige, Schnell-Tests auf dem Marktplatz, bevor man die Oma besucht. Mit diesen und noch einigen weiteren Massnahmen scheint man die Herausforderung ganz gut in den Griff zu bekommen.

Lernt man aus den Erfahrungen in Tübingen? Lang hat man diese "Best Practice" schlicht ignoriert. Jetzt gibt's hier und da mal ein Lob in dieser oder jenen Talkshow. Aber als kürzlich Gesundheitsminister Spahn von Sandra Maischberger konkret nach Tübingen gefragt wurde - siehe Interview vom 9.12. ab 7min 20sek, hat er in seiner Antwort nicht einen einzigen Satz darüber verloren. Wo sind da die inneren Barrieren? Spahn wich aus mit einem Dank an alle Pflegekräfte, was immer gut ankommt. Warum man auf Tübingen nicht mehr eingeht, bleibt rätselhaft.

So beeindruckt ich vom Handeln der Protagonisten während der ersten Welle war, so enttäuschend ist die derzeitige Performance. Falsche Analysen. Es waren in den letzten Monaten nicht die Reisen, Restaurants und Hotels, die die Pandemie trieben, sondern Schulen, Arbeitsorte und Öffentlicher Verkehr. Falscher Fokus. Man lernt nicht von Erfolgen wie Tübingen, sondern zerredet die Dinge, verfängt sich im Kleinklein, flüchtet in Allgemeinplätze. Falsche Schlussfolgerungen. Mehr vom Gleichen, obwohl es vorher schon nicht funktionierte. 

Entweder gehen wir die Dinge konsequent an. Oder wir lassen es offensichtlich einfach laufen. Was wir zur Zeit machen, ist lauwarm und unterkritisch. Es wird, so meine Vermutung - und hier habe ich im Rückblick sehr gern unrecht, befürchte aber, es ist nicht so - wieder nicht reichen, um die Zahlen runterzubekommen. 

Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Oft wird nach Asien geschielt. Doch das nützt wenig. Wir haben ganz andere Gesellschaftsstrukturen. In vielen asiatischen Staaten kann eine Regierung eine Weisung ans Volk rausgeben, und das wird dann quasi unisono befolgt. Wir leben aber in sehr pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaften. Und solange uns nicht grad etwas auszulöschen droht, möchte ich das auch nicht aufgeben, viele andere sicherlich auch nicht. Querdenker und Coronaleugner nerven, und das sogar sehr. Aber die Alternative (lauter Mundtote) ist keine. 

Im Grundsatz ist das schwedische Modell das, was bei uns funktioniert. Hätte man dort die ältere Bevölkerung von Anfang an gut geschützt, tübingenstyle, würde man Schweden heute als Kardinalsweg betrachten - wenn man denn konsequent testet und schnell reagiert. Das hat nicht geklappt.

Das Kind ist mittlerweile im Brunnen. Wir haben es vermasselt, zu viele Infizierte, weil Schulen, Arbeitsorte und ÖV zu lange tabu waren, stattdessen Restaurant-Schliessungen für die Galerie. Jetzt hilft nur noch ein kompletter Lockdown für eine kurze Zeit, dafür für alle, siehe Blogbeitrag: Der einzige Lockdown, der funktioniert. Seitdem sind nun bald zwei Monate vergangen. Es mehren sich langsam die Stimmen, die Ähnliches erwägen. Warum erst jetzt?

Im Fazit:

- Unsere Analysen müssen besser werden. Es gibt Daten, die klar darauf hinweisen, dass wir hier einen kläglichen Job machen. Wir haben ein ganz anderes Infektionsaufkommen als die gemeldeten Fälle suggerieren. 

- Wir müssen von Erfolgsbeispielen lernen. Tübingen z.B. sollte im Mittelpunkt der Diskussion stehen. 

- Der Karren ist mittlerweile im Dreck. Wir müssen einen kompletten Lockdown durchführen, inklusive Schulen/Arbeitsorte/ÖV. Sonst funktioniert es nicht.

Wir finden hoffentlich bald zur notwendigen Transparenz und Konsequenz.

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