Freitag, 15. Januar 2016

Völkerwanderung 2.0 - ein Vorschlag

Ein tiefer Graben tut sich dieser Tage auf zwischen denen, die das Leid der Flüchtlinge in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen und denen, die ihre Heimat in Gefahr sehen. Einfache Antworten werden gesucht. Und man redet mehr und mehr aneinander vorbei. Die Positionen verhärten sich.
Manche rufen nun nach einer Wertediskussion. Es braucht keine solche Wertediskussion. Wir halten seit Jahrzehnten Werte hoch, die bereits 1948 in der UN-Erklärung der Menschenrechte sowie 1950 auf europäischer Ebene in der Europäischen Menschenrechtskonvention kodifiziert wurden. Diese Dokumente, die es sich lohnt, einmal im Original zu lesen, sind ein präziser Kompass und geltendes Recht, in der Schweiz wie in Deutschland. Um die grundsätzlichen Fragen zu beantworten, die die Flüchtlingsdiskussion aufwirft, reicht der sich daraus ergebende Wertekanon komplett.
Der zuvor erwähnte tiefe Graben tut sich so auch nicht auf wegen unterschiedlicher Werte, sondern, weil die Gruppen links und rechts des Grabens - gemäss Umfragen etwa gleich gross in unseren westlichen Bevölkerungen - nur auf einem Auge sehen (wollen). Die einen legen den Fokus auf die Sorge um die Flüchtlinge, die anderen wiederum auf die Sorge um die freiheitlich-demokratische Gesellschaft, in der wir leben. Wollen darum die, die den Flüchtlingen helfen wollen, unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft nicht erhalten? Wollen die, die unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft bedroht sehen, den Flüchtlingen nicht helfen? Mitnichten. Die meisten von uns wollen, wenn sie Stammtischparolen beiseite legen und in sich hineinhören, beide Ziele erreichen. Und sie stehen sich auch nicht unversöhnbar im Weg.
Es gäbe Möglichkeiten, einen guten Kompromiss zu erreichen, wenn nicht so viel in der Diskussion zu schnell tabuisiert würde. Und die Diskussion ist wichtig. Denn anders, als uns der ein oder andere Politiker Glauben machen möchte, ist die Flüchtlingswelle mit hoher Wahrscheinlichkeit kein vorübergehendes Phänomen. Trotz kalter Temperaturen kommen so dieser Tage in Deutschland weiter so viele Flüchtlinge an, dass es auch 2016 wieder über 1 Mio. Menschen sein könnten.
Wir sind vermutlich naiv, wenn wir glauben, dass das Problem in Kürze wieder schwindet. Vielmehr sehen wir wahrscheinlich den Beginn einer Völkerwanderung 2.0. Die letzte grosse Völkerwanderung fand vom 4. bis 6. Jahrhundert statt. Hunnen, Wandalen, Angeln und Sachsen suchten eine neue Heimat - nicht alle, aber in einer Dimension, dass man von einer Völkerwanderung spricht. Wenn heute 4 Millionen Syrer eine neue Heimat suchen, ein signifikanter Teil der Gesamtbevölkerung, dann hat das Völkerwanderungsdimensionen und der Begriff ist durchaus angebracht.


Es sind ja auch nicht nur die aktuellen Konfliktherde und Kriege, die dazu führen, dass Menschen in Scharen ihre Heimat verlassen. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden Klimaveränderungen dazu führen, dass gewisse Regionen der Welt immer lebensunwürdiger werden. Auch dort werden viele umsiedeln wollen, wenn nicht sogar müssen. Und dann - und auch daran ist nichts Verwerfliches - können Menschen rund um die Welt über Fernsehen, Facebook und YouTube sehen, wie wir hier leben. Würden sich nicht auch einige von uns, wenn sie es können, aufmachen aus einer armen Region hin in die Teile der Welt, wo man (vermeintlich) so lebt wie in Baywatch, gesehen von 1,1 Milliarden Menschen in 142 Ländern?
Vielleicht hilft es den beiden Lagern, wenn man einen Schritt aufeinander zugeht und die Position des anderen anerkennt. Hier ein Versuch mit zwei Thesen, die die meisten von uns vermutlich beide vom Prinzip her unterschreiben können:

These 1
"Jeder Mensch auf dieser Welt sollte das grundsätzliche Recht haben, an jedem Fleck auf dieser Welt zu leben."
Der Umstand, dass man das Glück hatte, in Zürich, Frankfurt oder New York geboren worden zu sein, sollte einem nicht das Recht geben, jemandem aus Dschibuti oder Bangalore das Recht zu verwehren, ebenfalls in Zürich, Frankfurt oder New York zu leben. Würden wir dieser Logik folgen, wären wir eine Welt von exklusiven und weniger exklusiven Clubs, in die man hineingeboren wird und nicht mehr herauskommt, eine Art globales Kastenwesen. Der oben angesprochene Wertekanon lässt ein solches Denken nicht ernsthaft zu. Wir sollten niemanden dafür beschuldigen, dass er Teil unseres Lebens sein will. Und schon gar nicht sollten wir das, wenn er effektiv vor Verfolgung und Krieg flieht. Aber das ist aus meiner Sicht gar nicht ausschlaggebend. Der Wunsch, irgendwo auf der Welt sein Glück zu suchen, unabhängig vom Geburtsort, sollte im Grundsatz akzeptiert werden. 

These 2
"Es gibt ein Mass an Einwanderung, das ein Land beherrschen kann, wenn es seine wirtschaftliche und soziale Stabilität nicht riskieren will. Dieses Mass darf nicht überschritten werden." 
Ab einem gewissen Punkt kippt es. Und dann ist vielleicht auch einmal die freiheitlich-demokratische Gesellschaft, in der wir leben, dahin. Die zunehmende Überwachung trägt zum Beispiel bereits dazu bei, dass in den letzten zwei Jahrhunderten mühsam errungene Freiheits- und Bürgerrechte eingeschränkt, ja sogar abgeschafft werden. Wir können nur hoffen, dass die Überwachungsmethoden, die heute schon Realität sind, nie in die Hände totalitärer Herrscher fallen. Genau eine solch unheilvolle Entwicklung sehen wir aber in verschiedenen westlichen Ländern. In der Hoffnung, dass "Ordnung geschaffen wird", erhalten Persönlichkeiten und Parteien immer grösseren Zuspruch (und in Wahlen Stimmen), deren freiheitlich-demokratische Gesinnung zumindest fragwürdig ist. Wenn wir zulassen, dass der eingangs erwähnte Graben immer tiefer wird, dann treiben wir einen grossen Teil unserer Bevölkerung in die Arme dieser Menschen. Wie robust unsere Demokratien dann sind, wird sich zeigen. Mir zumindest ist nicht danach, dies wirklich zu testen. Wir sollten vorher versuchen, aufeinander zuzugehen. Und darum diese zweite These: Es gibt ein Mass an Einwanderung, das ein Land beherrschen kann, wenn es seine wirtschaftliche und soziale Stabilität nicht riskieren will. Dieses Mass darf nicht überschritten werden.



Natürlich stehen die beiden Thesen in einer gewissen Weise in Konkurrenz, wenn man sie nicht aufeinander abstimmt. Aber das ist ähnlich wie mit der freien Berufswahl, einem Grundrecht in unseren Breitengraden. Nicht jeder kann jetzt sofort Bäcker werden. Aber wir tun alles dafür, die freie Berufswahl zu ermöglichen und zugleich das Gesamtsystem am Funktionieren zu halten. Ebenso muss es auch mit der freien Ortswahl und der Steuerung des Masses an Einwanderung sein.


Es wäre viel gewonnen, wenn wir die beiden obigen Thesen zusammen akzeptieren könnten. Tun wir das, verschwindet der oben beschriebene Graben und es ergibt sich fast automatisch ein Lösungskorridor: Wenn wir auf der einen Seite nur eine gewisse Zahl von Menschen pro Jahr aufnehmen können, ohne unsere Gesellschaften zu gefährden, im Grundsatz aber jedem Menschen das prinzipielle Recht umzusiedeln zugestehen, dann brauchen wir "Pufferzonen", in die man aus seinem Ursprungsland kommen und im Ausmass dessen, was machbar ist, in die Zielländer weiterreisen kann. Wir brauchen eben gerade nicht "Integration von allen sofort", weil sie ab einem gewissen Mass an Einwanderung nicht mehr funktioniert, sondern Zonen, in denen man sich aufhalten kann, bis man einwandert oder zurückkehrt. Denn wir dürfen die Rückkehr als Option nicht vergessen. Es gibt Menschen, die ihre Heimat lieben und die nur vor Verfolgung/Krieg fliehen mussten. Sie wollen baldmöglichst zurück. Eine Integration macht in diesem Fall gar keinen Sinn.
Ich bin mir bei diesem Vorschlag absolut bewusst, dass er bei manchen bereits einen Abwehrreflex ausgelöst hat. "Das klingt nach Internierungslager", "das ist menschenunwürdig", etc. - ich kann mir gut vorstellen, wie man den Vorschlag zerreissen kann. Wer so reagiert, ist allerdings wieder auf einem Auge blind. Er hat eben nicht die beiden obigen Thesen akzeptiert, sondern nur eine der beiden. Und das führt in eine Sackgasse. Es gefährdet am Ende das Ganze.
Die Pufferzonen könnten im Falle von Europa einige angemietete Mittelmeerinseln sein, deren derzeitige Nutzung nicht existiert oder beendet werden könnte. Auch hier bin ich mir bewusst, dass dieser Vorschlag unmittelbare Abwehrreflexe auslösen kann. Aber Mittelmeerinseln sind die beste Lösung. Die Lebensbedingungen sollten klimatisch möglichst angenehm sein und auch leichte Behausungen möglich machen, womit Inseln rund um Färöer eher wegfallen. Inseln per se wiederum erlauben es, jeweils einen überschaubaren gesellschaftlichen Mikrokosmos entstehen zu lassen.
Die logistische Aufgabe wäre gross, aber wir sind in der Lage, sie zu bewältigen. Wir müssen es ohnehin, ob wir Siedlungen aus IKEA-Flüchtlingshäusern nun hier oder in den Pufferzonen aufbauen.
Man könnte die Zeit vor Ort nutzen, etwas Gutes für die Menschen zu tun, ob sie nun zurückkehren oder einwandern. Ein Berufsschulwesen könnte etabliert werden, in dem Neuankömmlinge kompakte Berufsausbildungen erhalten. Damit wäre auch die Zeit vor Ort sinnvoll genutzt. Schnell würden in diesen Pufferzonen sogar Jobs entstehen und diese zu kleinen, in sich funktionierenden Systemen werden. Ich bin nicht naiv, es wird Hilfe und Koordination brauchen. Aber machbar ist das alles. Wir haben es in der Geschichte der Menschheit viele Male bewiesen.
Natürlich kostet das Geld. Viel Geld. Aber auch das tut es so oder so.
Wir tun niemandem einen Gefallen damit, die Dinge so entgleiten zu lassen, wie es derzeit passiert. Wir haben die Situation nicht unter Kontrolle. Und die, die um Europa eine Mauer bauen wollen, denken nicht zu Ende. Das Vorhaben per se ist naiv. Dazu sind wir glücklicherweise nicht in der Lage wegzuschauen, wenn Menschen rund um die Mauer dann im Elend verharren. Die ersten Bilder von dortigen unhaltbaren Zuständen würden zu Recht dazu führen, dass eben diese Mauer wieder geöffnet würde. Wir müssen eine andere Lösung finden. Und wir müssen eine Lösung finden. Man kommt dann schnell zum Ergebnis: Wenn mehr Menschen gewisse Regionen in dieser Welt verlassen wollen oder müssen, als wir in der Lage sind bei uns aufzunehmen, dann müssen wir Pufferzonen schaffen. Es geht sonst nicht auf.

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