Donnerstag, 9. Juli 2020

Kopfscheu

Einige Monde bin ich nun doch schon auf dem Planeten. Was sich in den letzten Monaten zugetragen hat, ist aber eine neue Erfahrung für mich. Es hat mit COVID-19 zu tun, ja. Aber was mich wirklich beunruhigt, ist, wie Menschen auf eine solche Herausforderung reagieren. Es gibt vielleicht eine Handvoll Freunde/Bekannte, die bereit sind, einen gepflegten Diskurs zum Thema zu führen. Für die meisten ist das ein nicht zu diskutierendes Thema. Manche machen komplett zu, wollen einfach glauben, was sie glauben.

Ich gebe offen zu: Ich habe in den letzten Monaten meine Meinung zu COVID-19 immer wieder angepasst. Aber nur so kann es sein. Am Anfang fehlten viele Informationen. Nun ist das anders. Man kann erste Schlüsse ziehen. 


Suspekt sind mir die, die von Anfang an wussten, was sie zu denken hatten und sich daran seit Beginn der Pandemie nichts geändert hat. Da ist die Meinung gemacht und nichts wird diese ändern. Und das beschreibt leider die grosse Mehrheit in meinem Umfeld. Freunde, deren intellektuelles Potenzial ich sehr schätze, verkrampfen über COVID-19 total, sind völlig kopfscheu und wollen nur noch Angst haben. Ob die Angst begründet ist oder nicht, sei dahingestellt - aber sie wollen gar nicht weiter überlegen. Sie haben für sich entschieden: das hier ist für sie gefährlich. Also Angst. 


Die Headlines, die man dieser Tage in den Medien liest, helfen nicht gerade. E
s gibt offenbar so eine „Meinung des braven Bürgers“, die opportun ist und wie ein Kanon wiederholt wird. Natürlich ist das keine Verschwörung, da zieht keiner zentral die Strippen, das ist alles Quatsch. Das passiert implizit. Der brave Bürger hat Angst und sieht die Gefahr. Und passt etwas nicht in diesen Kanon, wird es diskreditiert. Kommt z.B. eine Studie raus, die die Gefahr von COVID-19 etwas relativiert, dann wird sie automatisch mit der Vokabel „umstritten“ belegt. Heinsberg-Studie der Universität Bonn (https://www.uni-bonn.de/neues/111-2020)? Umstritten. Stanford-Studie zu Santa Clara (https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.14.20062463v2)? Auch umstritten. Die Studien suggerieren, dass der Prozentsatz der Todesfälle aus COVID-19 irgendwo zwischen 0,1 und 0,4 % liegt - im Durchschnitt, inklusive der älteren Bevölkerung. Nimmt man die ungefähre Verteilung zwischen den Altersstufen, dann wäre das Risiko, mit COVID-19 infiziert abzuleben, so etwa zwischen 0,025 und 0,1 % für einen 50jährigen, ca. ein Viertel des Durchschnittsrisikos (siehe auch mein letzter Blogbeitrag "Leben mit COVID-19 (22, 25…)“, wo ich die Zahlen von New York bis Mitte April 2020 auswertete). Die Stanford-Studie kam zum Resultat, dass im untersuchten Gebiet 85mal so viele Menschen mit COVID-19 infiziert waren als offiziell durch Tests gefunden wurde. 85. Das würde alle Berechnungen über den Haufen werfen. 

Die Studien mögen nicht exakt sein. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn am Ende die Wahrheit genau dort läge, bei den 0,1 bis 0,4 %, mit Abweichungen nach oben dann, wenn ein Gesundheitssystem Defizite hat. Als man eine ähnliche repräsentative Studie in New York State machte, kam 0,5 % heraus. Es verdichten sich die Erkenntnisse, dass es irgendwo in dieser Gegend liegen muss. Nehmen wir das so in der Breite wahr?


Solche Prozentsätze passen aber nicht ins allgemeine Narrativ. Wie wenig wird darüber geschrieben? Und nochmals, ich sage nicht, dass dieses Narrativ abgestimmt ist von irgendwelchen sinistren Kräften - ganz und gar nicht. Aber als Journalist holt man sich vermutlich schnell eine blutige Nase, wenn man diesen Studien zu viel Aufmerksamkeit schenkt - und lässt es darum bleiben. Gelobt und reichlich zitiert wird man, wenn man über den COVID-19-Infizierten schreibt, der roten Ausschlag an den Zehen bekommt - selbst wenn das vielleicht ein Fall unter 100’000den ist. Der rote Zeh ging um die Welt. Anekdoten dieser Art gehen halt immer, völlig jenseits jeder statistischen Relevanz. Emotionalisiert… und macht kopfscheu. 


Es ist unsäglich. Ich habe mittlerweile auch Angst. Aber meine Angst ist die vor der Situation, dass wir mal eine wirklich dramatische Herausforderung als Gesellschaft zu meistern haben. Wenn wir jetzt schon, bei einer Krankheit mit einer durchschnittlichen Todesrate von 0,1 - 0,4%, so austicken, ja was tun wir erst, wenn es mal einen Virus gibt, der (1) so hinterlistig ansteckend ist wie COVID-19 (man kann jemanden infizieren, ohne selbst zu merken, das man es hat), aber auch (2) so tödlich wie Ebola (je nach Stamm sterben zwischen 30 und 90% der Infizierten)? Ich bin ein absoluter Gegner von Waffen in privaten Händen, aber wenn ich mir anschaue, wie aufgewühlt unsere Gesellschaft jetzt schon ist, was erst, wenn es so richtig dramatisch wird? Bewahren wir dann die Ruhe und versuchen mit besten Kräften, das Problem zu lösen, oder fallen wir übereinander her? Die Reaktion zu COVID-19 - einem Virus, der es in sich hat und ernst genommen werden muss, keine Frage, am Ende aber die Welt nicht verändern wird - lässt mich hier sorgenvoll sein. 


Und ja, die Medien machen dabei keine gute Figur. Ich bin ein grosser Anhänger derselben. Ich glaube, dass NZZ, Tagi, Zeit, FAZ, TAZ, NYT, CNN etc. alle einen insgesamt grossartigen und wichtigen Job machen. Aber manchmal setzt es aus. Und das ist nicht abgesprochen, sondern vermutlich systemimmanent. Man kann gewisse Dinge dann einfach nicht schreiben, weil die gesellschaftliche Sanktion zu gross wäre. Und in einer Art vorauseilendem Gehorsam wird es dann auch nicht gemacht. Oder, man zerpflückt unseriös: Heinsberg-Studie auf dem Tisch. Nur 0,37 % Todesrate? Das passt nicht. Schnell mal jemanden finden, der Zweifel sät. Oder n-tv zur Studie von Stanford am 1.5.2020 unter dem Titel "Umstrittene Stanford-Studie - Coronavirus nicht gefährlicher als Grippe?“ ( https://www.n-tv.de/wissen/Coronavirus-nicht-gefaehrlicher-als-Grippe-article21752352.html  ). Dies ist immerhin die Stanford University. Aber man muss es zerreden. Das tut man aber nicht, indem man andere, konkurrenzierende Daten liefert, oder eine Gegenthese i.S.v. „Wissenschaftler X kam bei seinen Untersuchungen zum Schluss, die Todesrate muss eher bei Y liegen“. Nein, man bietet nichts an, sondern sät nur besagte Zweifel. Und dafür findet sich in der Community (der sich gegenseitig Erfolge und Ruhm neidenden) Wissenschaftler natürlich schnell jemand, der zur Stelle ist. 

Nochmals: Ich sage nicht, dass die Universitäten in Bonn und Stanford Recht haben. Wie könnte ich? Aber warum sind diese Zahlen umstritten, wenn zugleich nichts anderes angeboten wird oder wenn, dann die wildesten Werte (über 10% Tote in Spanien - was 100% falsch ist!), weil man fälschlicherweise nur die getesteten Infizierten ins Verhältnis zu der Anzahl der Toten setzt, nicht aber die Gesamtheit der Infizierten zu ermitteln versucht. Das ist sträflich. 


Es gibt ein ganz fundamentales Problem, das dramatische Auswirkungen auf unsere Meinungsbildung hat: Es wird nicht ordentlich informiert. Da gab’s zu Beginn der Pandemie schon mal diese Irritation mit den Masken, von denen es zunächst hiess, die bringen nichts. Jetzt sind sie an vielen Orten Pflicht. Aber das viel grössere Problem ist: Wir müssen doch dramatische Entscheidungen treffen - bzw. sie werden tagtäglich getroffen. Wir beschliessen Lockdowns, schränken Bürgerrechte ein, zerstören Unternehmen, schaden der Wirtschaft insgesamt und damit auch uns allen. Da muss man doch schauen, ob das gerechtfertigt ist. Ist es da nicht eines Jeden verdammte Pflicht, sich einmal nüchtern die relevanten Daten anzuschauen?


Nun mag der kritische Leser sagen, dass das nicht einfach ist. Was sind denn die relevanten Daten? Aber das stimmt nicht. Es ist sehr einfach! Wir leben mit verschiedensten Risiken, tagtäglich. Zumeist machen wir uns keine konkreten Gedanken dazu. Aber wenn, dann misst man das Risiko oft in „Cases per 100’000“. Also wie hoch ist z.B. mein Risiko, dass ich im Haushalt oder Strassenverkehr umkomme? Und dann schaut man nach, und sieht "pro 100’000 Einwohner kommen so und so viel Menschen um“. Man kann dann recht sachlich entscheiden, ob einem das Risiko zu hoch ist oder nicht. Und genau so müssen wir auch bei COVID-19 vorgehen.


Ein Phänomen kommt nun neu dazu: Selbst wenn die Zahl der getesteten Infizierten gleich bleibt oder hoch geht, die Zahl der Todesfälle geht runter - und auch die der Erkrankten. Wäre es nicht wichtig, das zu verstehen? Vielleicht entwickelt sich COVID-19 ja immer mehr zu einem Risiko, mit dem wir als Gesellschaft gut leben können, selbst wenn wir das „Durchinfizieren“ nicht verhindern könnten. Sollten wir das nicht prüfen, bei all dem, was wir zu entscheiden haben? Man schaue sich dazu diese Charts für Schweden an: 


Quelle: https://experience.arcgis.com/experience/09f821667ce64bf7be6f9f87457ed9aa

Das ist doch auffällig. Aber es wird nicht besprochen. Interessiert sich denn kein Journalist dafür, warum denn bitte die Zahl der Erkrankten in Intensivstationen und der Toten derart extrem zurückgeht, wenn die Zahl der Infektionen doch eher steigt?


Mir kommen vier mögliche Gründe in den Sinn:


1. Wir wissen, COVID-19 besser zu heilen. Glaube ich nicht, dafür ist die Lernkurve noch zu kurz. Wenn, dann ist das ein kleiner Faktor.


2. Wir schützen die ältere Bevölkerung deutlich besser, für die COVID-19 unbestritten ein grosses Risiko ist. Bravo, wenn’s so ist. Kann gut sein, dass das der Grund für die positive Entwicklung trotz hoher Infektionszahlen ist. Das ist dann aber auch eine gute Nachricht. Wenn man die Älteren gut schützt, ist es gleich deutlich weniger dramatisch.


3. Wir haben zu Beginn der Pandemie nur einen Bruchteil der Infizierten erfasst. In Tat und Wahrheit waren es viel mehr. Stanford suggerierte das 85fache. Das klingt mir jetzt nach arg viel Dunkelziffer. Aber wenn es nur 10-20mal so viele sind…COVID-19 verliert seine Gefährlichkeit dann, wenn man die Risiken ausrechnet. 

4. (aufgrund des Inputs meiner schlauen Nichte neu addiert): Ggf. mutiert COVID-19 bereits zum Besseren für seine Wirte. Viren wollen sich vermehren. Und dazu ist ein fitter Wirt besser als ein dahinsiechender. Darum setzen sich auf Dauer in der Regel die für den Menschen harmloseren Stämme durch. Es gibt wohl jahrhundertealte Coronaviren, von denen wir heute noch einen Schnupfen erhalten. Dies wäre nicht das erste Mal, dass dies passiert. 

Ich denke, 2. ist der bessere Erklärungsansatz. Wir die ältere Bevölkerung betroffen ist, wie sie geschützt wird, ist matchentscheidend. Aber es hat sicher auch Elemente von 1. und 3. Wir setzen neue Präparate ein, wir testen mittlerweile besser. Wiederum 4. wäre fast zu schön um wahr zu sein. Ein Virus mutiert eigentlich nicht so schnell zum Besseren. 

Aber warum machen sich darüber öffentlich nicht schlauere Leute als ich Gedanken? COVID-19 ist weiter unter uns. Ein Impfstoff kann bald verfügbar sein oder aber auch nicht. In letzterem Fall würden wir über kurz oder lang durchinfiziert. Sollten wir nicht alles daran setzen, COVID-19 für diesen Fall so gut wie möglich zu verstehen? 

Ich war zu Beginn beeindruckt von der Entschlossenheit der Politiker. Eine neue Bedrohung, unzureichende Informationen - es wurde entschieden gehandelt. Das war gut. Aber jetzt haben wir Erfahrungen gesammelt, wir haben deutlich mehr Daten. Und die suggerieren interessante Entwicklungen, die sehr, sehr wichtig für unsere Entscheidungen sind. 


Und kaum jemand schreibt darüber. Lieber den 100sten Artikel über jemanden, der eine extreme Nebenwirkung von COVID-19 hatte. Das führt doch zu nichts. Bzw. doch: es macht die Menschen … kopfscheu. Und das ist nicht gut. Gar nicht gut. In solchen Zeiten müssen wir - noch mehr als sonst - besonnen handeln. Und wenn das bedeutet, das Narrativ etwas anzupassen, dann muss man die Kraft und den Mut dazu haben.


Ich wäre nicht überrascht, wenn es einmal heisst: Nach anfänglich dramatischen Entwicklungen bekamen wir COVID-19 recht gut in den Griff. Klar, es war ein spezieller Virus. Ein Wirt mochte keine Symptome erkennen, aber ansteckend sein. Aber wir beachteten Hygienemassnahmen, schützten besonders die ältere Bevölkerung und sahen ab von Grossveranstaltungen in Innenräumen. Sahen wir einen lokalen Ausbruch, handelten wir dort gezielt. Dort, wo man sich an diese wenigen, aber wichtigen Spielregeln hielt, gingen die Anzahl der Erkrankten und Todesfälle recht bald deutlich zurück. Wir müssen weiter wachsam sein. Früherkennung ist von entscheidender Bedeutung. Aber wenn es sich so weiterentwickelt, wird COVID-19 einfach eine weitere Herausforderung von vielen sein. 


Ich mag falsch liegen, zu sehr an unsere Lernwilligkeit und Handlungsfähigkeit glauben. Und klar, man darf es natürlich nicht einfach fahrlässig laufen lassen wie bisher in den USA. Dort ist der persönliche Schutz gegen COVID-19 dazu leider zum politischen Statement geworden. Ein Republikaner, der Maske trägt, ist in seinen Reihen schnell mal suspekt. Das ist natürlich schlimm. Hätte nie so weit kommen dürfen. Man muss die Hygienemassnahmen beachten, sich schützen. 


Aber kann man nicht zugleich nüchtern versuchen, die Risiken besser zu verstehen statt Panik zu verbreiten? Man sucht sich die Finger wund im Internet bzgl. eines Beitrags zum Phänomen, das ich oben für Schweden aufzeige. Dabei sind die Entwicklungen über den Sommer grad dramatisch (gut). Die Anzahl der schwer Erkrankten und Toten, die COVID-19 hatten, geht deutlich zurück, über das Infektionsgeschehen hinaus, so erscheint es. Falls diese Beobachtung richtig ist, warum ist das so? Grosses Schweigen im Walde...

Wir müssen aber auch bei uns selbst beginnen, als private Individuen. Wir müssen lernen, in solchen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und nach bestem Vermögen zu analysieren, was Sache ich, nicht unsere Emotionen überhand nehmen zu lassen. Emotionen sind gut und wichtig. Aber nicht in solchen Krisen. Keiner will in einem Flugzeug sitzen, das notlanden muss - und der Pilot weint nur. Wir sind hier alle Piloten. Wir geben den Politikern vor, was sie zu tun und zu lassen haben. Und wenn deren Handeln nicht ein Spiegelbild unserer Kopflosigkeit sein soll, müssen wir selbigen Kopf kühl bewahren und nach bestem Vermögen und möglichst sachlich entscheiden. Nur dann kommt es in Krisen gut raus.

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