Mittwoch, 1. Dezember 2021

Fragen, die zu lang unbeantwortet bleiben

Es fühlt sich an, als hätten wir nichts dazugelernt. Die nächste Welle, das nächste Drama. Schnell werden den Regierenden Vorwürfe gemacht. Warum handeln sie nicht konsequenter? Warum wiederholen sich die Fehler? Und dann handeln sie, oft undifferenziert, mit Massnahmen nach Giesskannenprinzip.

Man muss sagen, die Regierenden fast aller freiheitlich-demokratischen Gesellschaften stellen sich mehr oder weniger ungelenk an.  Und das hat chronische Gründe. Denn die Pandemie ist auch eine Zeit unbeantworteter Fragen. 

Welcher Anteil der Bevölkerung hat zum Beispiel Antikörper und wie viele? 

Die Frage ist doch äusserst wichtig. Sieht man Licht am Ende des Tunnels, lässt sich die ein oder andere Einschränkung doch leichter ertragen. Und selbst wenn mittlerweile klar ist, dass man sich mehrfach anstecken kann, so gilt auch als weitgehend gesichert, dass eine Covid-19-Infektion das zweite Mal nicht so schlimm ist wie das erste Mal und das dritte nicht wie das zweite. Unser Immunsystem lernt offenbar dazu. 

Warum also wird nicht mit statistisch ausreichender Signifikanz untersucht, wie die Antikörperlage im Land ist? Schweden scheint zum Beispiel ohne grosse Infektionsrate in den Winter zu gehen.Man möge den Tag noch nicht vor dem Abend loben, aber sind die Schweden mit Covid-19 vielleicht durch? Omrikon mag kommen, aber vielleicht ohne schwere Verläufe, weil eine Grundimmunität vorherrscht. 

Das wäre doch eine sehr wichtige Frage zu beantworten. Es würde uns auch ein Gefühl dafür geben, welche Opferzahlen wir bis zur sogenannten Durchinfizierung zu beklagen hätten. Dass es am Ende zum Zustand einer Durchinfektion kommt, daran zweifelt eigentlich niemand. Es kann nur darum gehen, die Krankenhäuser nicht zu überlasten. Was zur nächsten Frage führt: 

Welche Massnahmen wirken denn nun und welche nicht?

Eine Wissenschaftlergruppe, die leider zu selten zu Wort kommt, ist die der Aerosolforscher. Wo wird sich infiziert, wo nicht? Den auf diesem Gebiet in Deutschland führenden Prof. Gerhard Scheuch beunruhigen Menschenansammlungen im Freien wenig. Und er kann sehr überzeugend darstellen, wie unterschiedlich Aerosole sich drinnen und draussen verhalten. Warum aber sagen wir dann Weihnachtsmärkte ab? Für den Applaus von der Galerie? 

Aerosolforscher Scheuch wundert sich regelmässig über derlei undifferenzierte Massnahmen, zuletzt wieder im seinem Interview „Gefährlichster Ort im Stadion ist die Loge“. Nach draussen sollen die Leute. Massnahmen wie die Schliessung von Weihnachtsmärkten oder Fussballstadien aber verlagern Treffen in die privaten Innenräume, ganz klar kontraproduktiv.

Hingegen sind schlecht belüftete Fahrstühle grosse Virenschleudern, werden aber viel zu selten erwähnt. Noch zwei Stunden, nachdem ein Infizierter mit Virenausstoss in einem solchen Fahrstuhl war, kann man offenbar fast gleich viel Infektionslast in der Luft feststellen. Man ist allein im Fahrstuhl, denkt sich nichts dabei, und infiziert sich. Ähnlich soll es sich mit öffentlichen WCs verhalten. Busse und Bahnen meiden in Zeiten hoher Inzidenz ist wohl auch eher sinnvoll, auch wenn die Empfehlung politisch keine leichte Kost ist. 

Stattdessen wird symbolträchtig über Weihnachtsmärkte und Fussballstadien befunden. Wiederholen sich hier die immer gleichen Fehler? Schon nach der ersten Welle galt: bei Gefährdungslage Treffen in schlecht belüfteten Räumen minimieren. Und da hilft auch kein Fenster auf Kipp, sondern echtes Stosslüften in regelmässigen und kurzen Abständen.

Warum werden die Massnahmen nicht stärker auf ihre Wirksamkeit hin unter die Lupe genommen? Vielleicht haben die Regierenden Angst vor der Bevölkerung und schenken darum keinen reinen Wein ein. Den Fussballspielen das Publikum nehmen erntet nur wenig Kritik, das kann man leicht umsetzen und sich der allgemeinen Unterstützung sicher sein. Sich an Busse und Bahnen wagen ist da viel heikler. 

Vielleicht ist hier das Interesse an statistischer Aussagekraft gar nicht so gross. Genau so wie bei Long Covid…

Was genau ist dieses Long Covid? 

Eine andere Frage, zu der einfach schon viel zu lang ein Informationsvakuum besteht. Warum bleibt es bei Anekdoten, wo ist die überzeugende Studie, die das Thema greifbar macht? 

Wenn Long Covid eher doch so kein grosses Ding ist, würde eine Impfpflicht Ü60 ausreichen? Diese Impfpflicht Ü60 wäre viel leichter zu verantworten. Wenn sich dann dennoch herausstellt, dass die, die sich haben impfen lassen, schwerwiegende Langfristschäden haben, die in dem Fall erst später auftauchen (die Arroganz, mit der diese Sorge abgetan wird, erstaunt immer wieder. Für mich war klar, dass ich am Ende eine Wette eingehe, als ich mich impfen liess, denn wir alle wissen nicht, was wir nicht wissen), dann wäre zumindest nicht eine ganze Bevölkerung davon betroffen. Ich weiss, das hören Viele nicht gern, weil der Geduldsfaden mit den Ungeimpften längst gerissen ist, aber heisst es nicht, Massnahmen müssten immer den geringst notwendigen Eingriff darstellen? Warum dann nicht mit Impfpflicht Ü60 beginnen? Vielleicht war’s das dann schon. Natürlich liegen auch U60 in den Intensivstationen, aber das wäre ggf. gut beherrschbar.

Und wenn es um die Ausrottung des Virus geht, dann müssen wir ohnehin global denken. Ein 70jähriger in Burundi geimpft ist allemal wichtiger und sinnvoller als ein 25jähriger in Brunsbüttel. Denn erstere Impfung schafft nicht nur allgemeinen Impf-Fortschritt, sondern schützt auch noch die Hochrisikogruppe vor einem schweren Verlauf. 

Und dann die Frage, die Geimpfte gar nicht gerne hören:

Wie hoch ist die Infektionsrate bei Geimpften und Ungeimpften wirklich? 

Die offiziellen Zahlen suggerieren einen krassen Unterschied. Aber sind die Test-Regime bei Geimpften und Ungeimpften wirklich gleich? Wenn am Arbeitsplatz 3G herrscht, werden Ungeimpfte dort quasi flächendeckend getestet. Die Geimpften aber testen sich eher selten. Wie ist denn der Prozentsatz der Infektionen im Verhältnis zu den Tests? Ist der Unterschied da auch so gross?

Ich zweifle keine Sekunde an der Wirksamkeit der Impfungen. Die sind ein grosses Heil und ich fühle mich deutlich wohler geimpft als ungeimpft. Aber verhalten wir Geimpften uns nicht ggf. auch pandemietreibender, fahrlässiger? Wir sind ja geimpft, haben uns das „normale Leben“ verdient. Haben wir das? Selbst Länder mit höchsten Impfquoten haben wieder besorgniserregende Entwicklungen jetzt, wo der Winter kommt. Das suggeriert zumindest, dass wir Geimpfte ggf. auch signifikante Pandemietreiber sind. 

Mir wäre viel wohler bei 1G, also gewisse Situationen nur mit Test, völlig egal ob geimpft oder ungeimpft. Mit 1G würden wir den Keil zwischen den beiden Gesellschaftsgruppen auch nicht noch tiefer treiben. Geimpfte und Ungeimpfte könnten zusammen feiern, arbeiten, Sport machen. Natürlich sind die Tests nicht 100% sicher. Aber ausreichend sicher vielleicht, Überlastungen des Gesundheitssystems zu verhindern. Und der persönliche Schutz, das ist ja jedem überlassen. Jeder, der will, kann sich impfen lassen. 

Insgesamt kommen wir vermutlich nur nachhaltig weiter, wenn wir auch Dinge, die gesellschaftlich schwerer zu verklickern sind, ins Zentrum der Massnahmen stellen. Weihnachtsmarkt im Freien ist eben harmlos im Vergleich zu vollem Bus zur Arbeit. Dass es unrichtig erscheint, wenn gewisse Vergnügungen erlaubt, Basisdinge des Lebens aber eingeschränkt sind, darf uns nicht so sehr stören, sonst kommen wir nicht weiter. 

Der Besuch eines Restaurants mit guter Durchlüftung, der Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, das Fussballspiel im Freien (insoweit die Anreise nicht mit dem ÖV erfolgt), all das war und ist wahrscheinlich nie ein Pandemietreiber. Dies aber festzustellen und entsprechend zu handeln, das verlangt einen Politikertypus, der sehr auf heisse Kartoffeln steht. Also lieber populäre Massnahmen treffen.

Aber was nützen Bedenken und Massnahmen, die viel Applaus bringen, aber wenig beitragen? Sie führen dann nur zum totalen Lockdown, weil die Infektion sich am Arbeitsplatz, in den privaten Wohnungen, im ÖV, etc. weiter verbreitet - die heiligen Kühe, die man ja nicht so recht anfassen will. 

Kassandrarufe wie die zum Treiben am 11.11. zum Beginn der Kölner Karnevalssession werden jedenfalls nicht seriös nachverfolgt. Was ist denn nun danach passiert? Hatte Köln gegenüber einer Stadt ohne Festlichkeiten dieser Art einen ungewöhnlichen Verlauf? Hatte Köln 1-2 Wochen danach nicht. Die Behauptung aber bleibt einfach im Raum stehen, ohne jede Evidenz.

Im all dem ist klar: wir haben eine schwere Pandemie, die Krankenhäuser sind wieder einmal voll. Sie sind zu voll. Wir müssen etwas tun, um zumindest besagte Durchinfektion zu verlangsamen. Und wahrscheinlich bleibt jetzt wieder nur eine Vollbremsung für 2-3 Wochen, weil man nicht an die heissen Kartoffeln wollte. 

Wenn wir dann mal zurückblicken, müssen wir uns als Gesellschaft auch die Frage stellen, wie gefährlich eine Krankheitswelle denn sein darf, bis wir etwas tun und was bei welcher Situation. Im Moment ist das nicht möglich. Zu viele sind zu kopfscheu, weil man dem Virus eine Kamera auf den Bauch geschnallt hat und dieses „live dabei sein“ schwere Ängste erzeugt. Selbst unter ganz jungen Menschen, die nachweislich kaum etwas zu befürchten haben, gibt es teilweise hysterische Zustände. Man ist da derzeit nicht bereit für besagte Diskussion. 

Wenn wir es dann sind, dann stellen sich folgende Fragen:

Verkehrstote, finden wir das einen annehmbaren Preis für Mobilität?
Wir könnten die Zahlen radikal minimieren. Dann käme der Verkehr aber wohl zum Erliegen. Der bestehende gesellschaftliche Kompromiss nimmt hier Opfer für unsere Mobilität wissentlich in Kauf. Wir tun solche Dinge. Das gilt es einmal festzuhalten. Wichtig für die Diskussion. 

Grippewelle mit teilweise vielen Tausenden Toten akzeptabel? 
Bisher war es das de facto. Es wurde einfach gar nicht drüber gesprochen. In Zukunft auch? Vielleicht hat Corona hier etwas verändert. 

Covid-19 mit am Ende vermutlich 20‘000 Toten in der Schweiz und 200‘000 in Deutschland?
Das ist offensichtlich zu viel, da wollten wir mehrheitlich handeln. Aber auch nicht alle.

Ein Killervirus mit 20% Todesrate und sich so verbreitend wie Covid-19. Würde das auch die überzeugen, die heute querdenken?
Unsere Gesellschaft wäre am Anschlag. Mir fiele hier nur ein: FFP2-Maske durchgängig (insoweit Infektion durch die Luft), unter Androhung hoher Strafen bei Nichtverfolgung. Sonst käme das gesellschaftliche Sein komplett zum Erliegen.
Hier hätten wir wahrscheinlich gegen 100% gesellschaftlichen Konsens, dass es brachiale Massnahmen braucht. Wir würden nicht 20% unserer Bevölkerung sterben lassen. 

Diese Abwägungen sind sehr schwierig und auf eine gewisse Art brutal. Die, die Verantwortung tragen, müssen sie aber treffen. Man schränkt gesellschaftliches Leben für 25‘000 Tote in einem deutschen Grippewinter nicht ein. Zumindest tat man das bisher nicht. Ab wann tun wir es dann? Auch wenn es nicht jeder offen sagt, es gibt so Manche, die die ungebremsten Covid-19-Opferzahlen in Kauf genommen hätten. Makaber, aber so ist es. Wir brauchen hier einen gesellschaftlichen Konsens, wann wir wie handeln wollen. Sonst wird’s beim nächsten Mal wieder ein solches Ge-Eiere. Und dann können wir uns nicht mehr herausreden mit „dem ersten Mal“. Können wir jetzt schon nicht mehr nach fast zwei Jahren.

Wenn wir aber besser werden wollen, müssen wir unbeantwortete Fragen beantworten, auch die politisch nicht Gewollten (ÖV Pandemietreiber ja/nein?), die Unpopulären (Weihnachtsmarkt draussen ungefährlich?) und auch die Schwierigen (Impfpflicht Ü60 reicht?). 

Ich wollte ganz zu Beginn der Pandemie wissen, wie gefährlich Covid-19 pro Altersgruppe und insgesamt ist und habe dafür im April 2020 die Zahlen der ersten Welle in New York analysiert.  Das war  nicht schwierig, die Daten liessen eine gute Analyse zu. Und ich bin überzeugt, wenn man wirklich einen Effort machen würde und die Daten ordentlich erfasst, bliebe auch keine der obigen Fragen unbeabtwortet. 

Es würde uns massiv weiterbringen. 

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