Mittwoch, 20. Februar 2019

Sozialismus 2.0

Sozialismus wird wieder hoffähig. Linksparteien in fast allen westlichen Nationen trauen sich, Massnahmen vorzuschlagen, die man noch vor 10 Jahren nicht gewagt hätte, in den Mund zu nehmen – nicht ohne Grund. In den USA, dem Mutterland des Kapitalismus schlechthin, wünschen sich gemäss einer Studie der Harvard University mittlerweile 33% der Millenials eine sozialistische Ordnung. Augenreibend fragt sich der ein oder andere vermutlich, wie das sein kann. Sind sozialistische Konzepte in den letzten Jahrzehnten nicht immer wieder gescheitert? Sehen wir nicht gerade live vor unseren Augen den Zusammenbruch von Venezuela?

Es wäre töricht, diesen Trend hin zum Sozialismus als eine merkwürdige Verirrung oder Laune der Natur abzutun. Das Gegenteil ist der Fall. Wenige Trends sind nachhaltiger als der, dass die gesellschaftliche Toleranz für Ungleichheit immer geringer wird. Vieles, was 1970 als soziale Errungenschaft galt, würde heute als rückständig und ungerecht empfunden. Und in 2070 werden wir auch die Standards von 2019 als inakzeptabel empfinden. Die Welt entwickelt sich permanent weiter zu einer egalitären Gesellschaft (siehe Blogbeitrag: Auf dem Weg zur Star Trek Gesellschaft).

Dass sozialistische Ideen im Grundsatz ansprechen, darf uns nicht verwundern.  „Sozialisten betonen im Allgemeinen die Grundwerte Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und in einigen Strömungen auch die Verwirklichung negativer und positiver Freiheit. Sie heben oft die enge Wechselbeziehung zwischen praktischen sozialen Bewegungen und theoretischer Gesellschaftskritik hervor, wobei sie das Ziel verfolgen, mit Blick auf eine sozial gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung beide zu versöhnen.“, so Wikipedia.


Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität – wer kann etwas dagegen haben? Das per se kann man ja eigentlich nur gut finden. 

Das Bestreben, Wohlstand möglichst breit zu verteilen in der Annahme, dass dies bessere Chancen für gleichverteiltes Glück bietet, ist nur natürlich. Die Toleranz für Ungerechtigkeit wird weiter und weiter abnehmen - ein Trend, den niemand aufhalten wird, selbst wenn so mancher Zeigefinger vor gescheiterten sozialistischen Staaten warnt. Das eine muss auch mit dem anderen nichts zu tun haben.


Die grosse Kunst ist, es so zu machen, dass der «Wohlstandskuchen» nicht nur gerecht verteilt wird, sondern dabei auch gleich bleibt oder - besser noch - grösser wird. Das war und ist die Crux der sozialistischen Systeme: Die Fixierung auf gerechte Verteilung führte immer wieder zu Wohlstandseinbussen für alle.


Und all die, die es mit den Rezepten von gestern versuchen – z.B. einem wenig originellen Spitzensteuersatz von 70%, wie ihn die amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez fordert -, werden wieder glorreich auf die Nase fallen. Dazu kommen die historisch neuen Herausforderungen der Digitalisierung und Automatisierung, deren Auswirkungen das Potenzial haben, die Sozialismusdebatte im klassischen Sinne komplett zu überschatten. Eine Arbeiterklasse ohne Arbeit ist keine mehr. Die Diskussionen werden einen komplett anderen Verlauf nehmen.


Und hier liegt der Hund begraben. Solider sozialer Fortschritt mit Wohlstandswachstum gelang immer dann, wenn gut dosiert Leitplanken gesetzt wurden und innerhalb dieser Leitplanken die Marktkräfte spielen konnten – denn nichts führt zu mehr Wohlstand als das Wirken des Marktes.


Nehmen wir die Debatte um ein Grundeinkommen. Die, die nichts gelernt haben aus der Geschichte, würden den Staat als Garanten dieses Grundeinkommens sehen. Jeder Bürger erhält vom Staat ein solches. Die blanke Katastrophe. Dem Staat käme eine Rolle zu, der er nicht gerecht werden kann. Eine gigantische Umverteilungsmaschinerie würde etabliert und für immer manifestiert. Millionen Almosenempfänger hingen am Tropf vom Staat.


Es gibt schlauere Lösungen, mit dem gleichen Resultat, aber deutlich grösseren Erfolgschancen. Wir müssen alle Bürger zu «Maschineneigentümern» machen – und mit Maschinen seien hier alle Computer, Fabrikroboter, etc. gemeint, die Arbeit erledigen, die sonst der Mensch gemacht hätte. Menschliche Arbeit wird abnehmen. Und so sollten wir einen Kapitalstock schaffen, eine Art 4. Säule des Pensionskassensystems Schweizer Art, aus dem eine Rente für alle ab 18 gezahlt wird, ergänzend zur Berufstätigkeit - die in einer nicht allzu fernen Zukunft einmal bei 20 Stunden pro Woche und weniger liegen wird (siehe Blogbeitrag: Die 20-Stunden-Woche). 


Die Rente wäre mit 18 noch klein, würde dann im Lebensverlauf stetig wachsen und eine immer grössere Rolle einnehmen, bis sie mit 65 den Stand erreicht, den wir heute kennen.
Natürlich, die Schaffung des Kapitalstocks würde eine einmalige Intervention notwendig machen, die wenig marktorientiert oder liberal klingt. Aber in der Tat, bei der Vermögensentwicklung auf diesem Planeten gab es eine Fehlentwicklung, die es zu korrigieren gilt, z.B. durch zwingende jährliche Kapitalerhöhungen in Firmen zugunsten besagten Kapitalstocks für die 4. Säule.

Innerhalb dieser Leitplanken dann aber spielen die Kräfte des Marktes. Konkurrenzierende Pensionskassen werden an ihrer Performance für ihre Versicherten gemessen. Und Letztere stimmen mit Füssen (ihrem Kapital) ab, welche Pensionskassen sich bewähren und welche nicht. Noch viel wichtiger: Es wäre ein natürlicher Kreislauf geschaffen: Echte Wertschöpfung im Wirtschaftskreislauf führt zur Rente für jeden. Echtes verdientes Geld wird verteilt. (siehe: Blogbeitrag: Sich den Realitäten stellen. Mut zur Krise. Morgen gestalten. Und: Die 4. Säule - Pensionskasse ab 18).


Der Skeptiker mag sagen, dass dieser Kapitalstock ja gigantisch sein müsste, um auszureichen. Und in der Tat, es wird 10-20 Jahre dauern, bis sich ein ordentliches Volumen gebildet hat. Helfen wird hier aber, dass wir gigantiasche Produktivitätszuwächse erwarten dürfen aus den Effizienzsteigerungen von Digitalisierung und Automatisierung. Im System der 4. Säule mit Rente ab 18 würde jeder daran teilhaben. Und nur so geht es.


Den Zielen des Sozialismus - Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität - kann man ihre Berechtigung nicht absprechen. Das sind Ziele, die wir im Grunde alle unterschreiben. Die Ironie der Geschichte will es, dass nur liberale, marktorientierte Systeme es bisher geschafft haben, ein hohes Mass an Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu schaffen. 

Entscheidend ist: Es darf keinen Sozialismus 2.0 mit alten Rezepten geben. Wir müssen kreativer sein. Ohnehin ist das Denken in Dogmen wie Sozialismus, Liberalismus oder Konservatismus längst völlig überholt. Die Erfolgsrezepte sind seit langem ein unverkrampfter Mix aus alldem. 

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