Donnerstag, 25. Februar 2021

ELEFANTEN IM RAUM

Zeit für Pandemie 2.0

aktualisiert am 3.3.2020


„Wir wissen noch zu wenig“  - seit einem Jahr läuft nun diese immer gleiche Schallplatte. Ist ja auch ganz praktisch. Sie lässt alle Möglichkeiten, entschuldigt notfalls Fehleinschätzungen und macht die Bevölkerung wachsam.

Niemand macht das mit niederen Motiven. Verschwörungstheoretiker, die dieser Tage ihr Unwesen treiben, versuchen zu suggerieren, dass da in Hinterzimmern irgendwelche Strippenzieher sitzen, die zu ihrem Vorteil das Volk seiner Freiheitsrechte berauben. Ein fertiger Quatsch.

Aber es gibt ein anderes Motiv, nicht für mehr Transparenz zu sorgen - und das eint die politische Kaste rund um die Welt: es ist das eigene Überleben. Ein Fehler in der Pandemiebekämpfung kann die Karriere kosten. Die Bevölkerung im Umgewissen zu halten, verschafft da Vorteile. Das Argumentieren und Handeln ist viel einfacher. Man weiss ja nicht…. Klingt plausibel und entschuldigt jeden Schritt. Denn wir wissen nicht. 

Wir wissen viel mehr, als wir denken. Es liegen reichlich seriöse Daten von offizieller Stelle (RKI, BAG, Länder bzw. Kantone, etc.) vor, die es sich lohnt anzuschauen. Weil das kaum einer tut, funktioniert die Strategie des Unwissens - in Deutschland noch etwas besser als in der Schweiz (ist der Schweizer von seiner Natur her doch etwas weniger staatsgläubig, zuweilen geradezu aufmüpfig, schaut genauer hin - was gut ist!).

Insgesamt mussten sich die handelnden Personen aber bisher nicht ernsthaft Sorgen machen um ausreichend Unterstützung in der Bevölkerung. Was dabei hilft, ist, dass für ca. 85 % aller Bürger das Leben wirtschaftlich mehr oder weniger normal weitergeht. Für die anderen 15 % (Reisebranche, Gastronomie, Kulturschaffende, etc.) bedeuten die Massnahmen wiederum oft der wirtschaftliche Totalausfall. Aber es sind eben nur 15 % und so kann sich die Politik einer grossen Mehrheit sicher sein. 

Das Argumentieren mit gezielten Nebelwolken hat aber auch seinen Preis. Kommen Zweifel auf – und über die Zeit ist das unausweichlich – geht Vertrauen verloren. 

Das erste Mal passierte dies bei der Maskendiskussion. Masken nützen nichts, braucht keiner, hiess es zunächst. Und dann wurden sie Pflicht. Das ist nicht gut. Man fühlt sich an der Nase herumgeführt. Mag ja zu einem guten Zweck gewesen sein (zunächst nicht genug Masken für das medizinische Personal), aber es kratzt am Vertrauen. 

Ähnlich die Diskussion rund um die spätestens seit Sommer 2000 verfügbaren Schnelltests, auch für den Eigengebrauch. Diese Diskussion ist von einer so offensichtlichen Scheinheiligkeit geprägt, dass es einem schon schwer aufstösst. In den Altenheimen sterben massenweise Menschen an Covid-19. Städte wie Tübingen und Rostock scheinen gute Rezepte dagegen zu haben, kämpfen für ihre Schnelltest-Regimes – und man wirft ihnen noch Knüppel zwischen die Beine. Ist dies effektiv das Resultat unguter Lobbyarbeit von Labor- und Ärzteverbänden? Es wäre eine Schande und kostet effektiv Menschenleben. Und auch das Kostenargument ist keines. Wir könnten jeden Bürger mit FFP2-Masken ausstatten sowie Schnelltests 2x die Woche mit und ohne Verdacht sowie bei Bedarf (Besuch bei Risikogruppen) durchführen, die Kosten wären ein Bruchteil dessen, was wir an Wirtschaftshilfen derzeit verbraten.

Es gibt sie immer wieder, diese kuriosen Momente. Argumentationen, die einfach nicht stimmig sind (z.B. die Urlaubsrückkehrer-Mär). Das selektive Zitieren von Wissenschaftlern (Drosten gern, Streeck weniger). Anekdotische Geschichten über wilde Krankheitsverläufe, deren Relevanz dann aber empirisch nicht belegt wird. Oder auch die Präsentation von Statistiken, die der Laie ohne entsprechenden Warnhinweis falsch verstehen muss. 

Lauter Elefanten im Raum. Und kaum einer redet drüber. 

Der mit Abstand grösste Elefant ist wohl das irreführende Kaffeesatzlesen in Inzidenzen. Der Genauigkeitsanspruch, der mit Grenzwerten von 35 oder 50 postuliert wird, lässt sich überhaupt nicht erreichen. Denn was ist die Aussagekraft der errechneten Inzidenzen, wenn auf jeden gefundenen Infizierten fast ein Dutzend nicht entdeckt werden?

Die Kontrollrechnung lässt sich mit einfachem Dreisatz bewerkstelligen: Auf Basis der Todesrate lässt sich „rückwärts“ errechnen, wie viele Infizierte es wohl dazu gegeben haben muss. Zur Todesrate hatte ich im April 2020 auf Basis der Zahlen der ersten Welle in New York City eine Schätzung von 0.28% veröffentlicht (über alle Altersgruppen). Die Heinsberg-Studie nannte im gleichen Monat für den Ausbruch in der gleichnamigen Stadt einen Wert von 0.37%. Und im November 2020 veröffentlichte die WHO eine Metastudie, die 61 Einzelstudien rund um die Welt zusammenfasste und auf einen Durchschnittswert von 0.27% für alle Altersgruppen kam (0.05% für alle unter 70jährigen). 

Die Werte mögen im Rückblick schon nochmals etwas zu korrigieren sein. Aber das ist, was wir haben, und es ist recht konsistent. Nicht unwahrscheinlich, dass man in dieser Region die Wahrheit findet. 

Zu erwähnen ist dabei, dass die Bandbreite der Todesrate, die die WHO in ihrer Metastudie nennt, schwankt und bis auf 1.63% geht. Wenn das Gesundheitssystem nicht gut ist, wenn die Leute aufgrund schlechter Krankenversicherung nicht zum Arzt gehen, bis es zu spät ist, dann steigt die Todesrate natürlich. Wir dürfen aber für die Schweiz und für Deutschland hoffentlich davon ausgehen, dass wir mit unserer Gesundheitsversorgung mindestens den Durchschnittswert, also die 0.27%, erreichen. 

Was bedeutet das nun für die Infiziertenzahlen? Nun, man stellt fest, dass es zwischen den gemeldeten Zahlen und den tatsächlich Infizierten vermutlich einen enormen Unterschied gibt:

Deutschland 
Offiziell gemeldete Infizierte gemäss RKI: 2,4 Mio.
Abgeleitete Infiziertenzahl: 24,7 Mio. (= 100%, wenn 66’698 Todesfälle 0.27% sind)

Schweiz
Offiziell gemeldete Infizierte gemäss BAG: 0,55 Mio.
Abgeleitete Infiziertenzahl: 3,4 Mio. (= 100%, wenn 9’190 Todesfälle 0.27% sind)

Zu den Daten für offiziell gemeldete Infizierte (jeweils per 18.2.2021):
- Quelle RKI-Zahlen (D): https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Fallzahlen_Kum_Tab.html
- Quelle BAG-Zahlen (CH): https://www.covid19.admin.ch/de/overview?ovTime=total

Ob die Gesamtzahl der Infizierten inkl. Dunkelziffer 
- aus der WHO-Metastudie abgeleitet nun ca. 1000% bzw. ca. 600% ist, oder 
- wie sich auf Basis von Antikörperuntersuchungen der Universität Zürich ergeben, nahe 300%  
der offiziell gemeldeten Infizierten, es laufen gemäss diesen Berechnungen auf jeden entdeckten Infizierten eine Vielzahl von Infizierten herum, von denen keiner weiss. Wie wollen wir seriös über 35 Infizierte pro 100'000 Einwohner befinden, wenn gleichzeitig auf diese 35 ggf. noch hunderte weitere unentdeckt durch‘s Dorf cruisen?
 
Unsere offiziell gemeldeten Zahlen liegen vermutlich fernab jeder Realität. Schaut man sich in seinem Umfeld um, wird das schnell plausibel. Wie wenige lassen sich testen, die es tun sollten? Und manchmal will man selbst, es wird aber abgeraten. Unsere einjährige Tochter, fleissige Kitagängerin, hatte jüngst eine Grippe samt Schnupfen, Durchfall, das ganze Programm – typische COVID-19 Symptome. Getestet wurde aber nicht. Man mache das nur, wenn ein konkreter Verdacht bestünde, hiess es, z.B. bei einer direkten Begegnung mit einem anderen Infizierten. Lässt man solche Testsituationen aus, muss man sich über eine grosse Dunkelziffer nicht wirklich wundern.

Läge die Zahl der Infizierten nun eher bei über 3 Mio. für die Schweiz bzw. über 24 Mio. für Deutschland – und damit bereits einem rechten Teil der Gesamtbevölkerung –, hätte das weitreichende Konsequenzen:

Inzidenzlesen ade
Wie können wir versuchen, Massnahmen auf Basis von Inzidenzwerten zu beschliessen, wenn wir den Löwenanteil der Infizierten gar nicht entdecken? Zu einem gewissen Grad mögen die Werte ja korrelieren (tatsächlich Infizierte vs. gemeldete). Aber bei einer solch grossen Dunkelziffer kann doch niemand seriös Trends ablesen oder sagen, bei 50 wäre die Nachverfolgbarkeit gesichert (wenn gleichzeitig 500 irgendwo herumlaufen, die nicht entdeckt werden). 

Wir sind eventuell schon nahe am Peak
Wenn die Infektionszahlen jüngst etwas zurückgegangen sind und nun auf einem Plateau verharren, kann es auch sein, dass wir bereits nahe dem Peak der Gauss-Kurve sind. Das würde die Perspektive auf die weitere Ausbreitung verändern. Denn das exponentielle Wachstum findet ja nicht bis zum letzten Infizierten statt, sondern nur in der ersten Zeit. Irgendwann kehrt sich die Dynamik ins Gegenteil um. Es wird immer schwieriger für das Virus, einen neuen Wirt zu finden. Und vermutlich wurden zunächst die Umtriebigsten angesteckt. Es könnte gut sein, dass ein wesentlicher Grund für die aktuell geringeren Zahlen schlicht darin zu finden ist, dass schon ein rechter Teil der Gesamtbevölkerung «durchinfiziert» ist.

Das Killer-Virus ist Covid-19 nicht
Covid-19 ist gefährlich, aber doch weit weniger, als Verhältniszahlen aus offiziell gemeldeten Infizierten vs.Toten suggerieren. Auch hier möchte ich Niemandem unterstellen, dass man diese Werte absichtlich ins Verhältnis setzt – und damit, indem man die Dunkelziffer ausser Acht lässt, enorme Todesraten erhält. Aber es ist zumindest schwer dilettantisch. Und es schürt Ängste, die so für alle Altersgruppen nicht gerechtfertigt sind.

Nun impfen wir die ältere Bevölkerung und sind damit in Bälde durch. Spätestens dann ist Zeit für Pandemie 2.0. In Israel bekommen wir einen Vorgeschmack darauf, was dann passiert. Die Inzidenz mag immer noch sehr hoch sein (weil die Jüngeren sich weiter gegenseitig infizieren), was aber nicht so tragisch ist, wenn die Krankhäuser sich leeren und die schweren Verläufe massiv abnehmen. Und genau dieser Trend nimmt in Israel, wo die ältere Bevölkerung quasi komplett geimpft ist, gerade seinen Lauf.

Dann ist es Zeit für Pandemie 2.0. Und das beginnt damit, nicht mehr nur wie ein Kaninchen im Scheinwerferkegel auf die Inzidenz zu schielen. Sich infizieren und dann auch krank werden sind eben zweierlei paar Schuh. Pandemie 2.0 sollte natürlich nicht heissen, dass wir fahrlässig werden. Testen, was das Zeug hält, Desinfizieren, Masken tragen und Abstand halten - na klar. Kostet wenig und nützt viel. Aber wenn die ältere Bevölkerung geimpft ist und die Jüngeren wirklich weiter kaum schwere Verläufe haben, dann kann das soziale Leben quasi wieder vollumfänglich stattfinden. 

Und wir täten gut daran anzufangen, differenzierter zu argumentieren. Wie viele junge Menschen denken, sie wären in schlimmer Gefahr, weil ihnen seit Monaten ein Einschüchterungs-Mantra vorgetragen wird? Nochmals, die meisten Handelnden machen das nicht mit niederen Motiven. Sie wollen so zur Vorsicht bewegen. Aber wenn keine Älteren mehr angesteckt werden können (da diese geimpft sind), mögen die Jüngeren wieder recht sorglos ihr Leben leben können. Es ist zumindest kein überzeugendes Zahlenmaterial bekannt – und das beinhaltet die gelegentlich anekdotisch vorgetragenen Geschichten von Langzeitschäden –, das etwas anderes suggeriert.

Natürlich kann Unerwartetes passieren, wie immer im Leben. Aber wir können nicht für jedes Restrisiko gesellschaftliches Leben anhalten. War der Lockdown bei der ersten Welle, als man erst mal verstehen musste, noch völlig ok, ja zwingend, hätte man schon bei der zweiten Welle differenzierter, risikogruppenorientierter vorgehen können (Ansatz Tübingen, Fokus auf die Risikogruppen). Jetzt, wenn die Älteren geimpft sind, sind Einschränkungen bald einfach nur noch unangebracht. Es wird allerdings nicht leicht sein für manchen Politiker, wieder von seinem Baum herunterzusteigen. 

In der Pandemie 2.0 sollten wir ein wachsames Auge auf Hospitalisierungen und Todesfälle haben. Das Infektionsgeschehen wird schlicht zweitrangig, wenn kaum jemand schwer erkrankt (was genau zu verfolgen sein wird, sich aber vermutlich genau so einstellt).

Vor allem aber können wir die Elefanten im Raum nicht einfach ignorieren. Ich unterstelle niemandem böse Absichten. Aber es muss aufhören, unzureichende Überzeugungsfähigkeit durch das Erzeugen von Nebelschwaden zu ersetzen. Richtig wäre gewesen zu sagen:

"Ja, wir haben noch zu wenig Masken. Wir arbeiten mit Hochdruck dran. Und dann bekommt jeder genug."

"Ja, wir müssen testen, was das Zeug hält. Die Schnelltests sind eine grossartige Ergänzung. Und wir testen, ob Symptome oder nicht, insbesondere dann, wenn Risikogruppen im Spiel sind. Kostet eine Stange Geld, mag Ärzte und Labors etwas irritieren, aber das ist jetzt so etwas von zweitrangig."

"Ja, Du bist ein junger Mensch und die scheinen effektiv kaum gefährdet zu sein. Nimm dennoch Rücksicht auf die vulnerablen Gruppen. Aber Du musst für Dich keine Angst haben, Dein Risiko ist keines, was Du nicht auch sonst im Leben hättest."

"Und auch wenn es auf den ersten Blick stössig ist: Wir können die Restaurants outdoor geöffnet lassen. Draussen ist das Risiko einer Infektion, insbesondere mit guten Hygienemassnahmen, einfach enorm gering. Wir müssen aber dort, wo man innen zusammentrifft, schauen. Und darum kann es auch sein, dass Restaurants draussen schon offen sind, wenn Indoor-Aktivitäten (berufliche Meetings) noch lang ersatzweise virtuell stattfinden müssen."

"Wenn Du verreisen willst, in eine Hütte in den Bergen, ein Strandhaus, dgl. – wenn Du weniger Kontakte hast als in der gleichen Zeit zuhause, verringerst Du das Infektionsrisiko für Dich und andere. Also reise, auch ins Ausland. Hauptsache geringeres Infektionsrisiko als zuhause."

Wäre diese Wahrhaftigkeit nicht zielführender? Jedenfalls kann Vertrauen verspielen in einer Pandemie im wahrsten Sinne des Wortes tödlich sein. Verliert man in einer solch kritischen Lage einen Grossteil der Bevölkerung, kann man packen. Und darum müssen wir ehrlich zueinander sein und dennoch erwarten dürfen, dass wir gemeinsam das Richtige tun. 

Heute vor genau einem Jahr wurde in der Schweiz der erste Corona-Infizierte entdeckt. Hoffentlich lernen wir aus den Erfahrungen der letzten 12 Monate. 



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