Sonntag, 12. April 2020

Leben mit COVID-19 (22, 25...)

aktualisiert am 26.4.2020

Prof. Klaus Püschel, Rechtsmediziner in Hamburg, sitzt bei Markus Lanz in der Talkshow und behauptet doch glatt, wir werden 2020 in den Statistiken keine besondere Auffälligkeit bei der Anzahl der jährlichen Todesfälle sehen (siehe: Markus Lanz vom 9.4.2020 ab 20min30sek). „Es sterben in diesem Jahr in Deutschland nicht mehr Menschen als in den Jahren zuvor“, sagt er. Wie kann das sein? 

Nun, er ist kein Unbeteiligter. In Hamburg werden COVID-19-Todesfälle obduziert. Prof. Püschel nimmt diese Untersuchungen vor. Er weiss noch von einer anderen Beobachtung zu berichten: COVID-19 war in keinem Fall der einzige Grund für das Ableben einer Person. Er sah ausschliesslich Patienten mit „ernsthaften Vorerkrankungen“ auf seinem Tisch.

Szenenwechsel. Schweden. Restaurants, Läden, Arbeitsstätten und Schulen sind weiter offen. Es wird an die Vernunft eines jeden Einzelnen appelliert und dabei die bekannten Hygienemassnahmen empfohlen. Kein radikaler Lockdown, keine kategorische Stay-at-Home-Order. Empfehlungen. Man würde denken, dass die Zahl der COVID-19-Toten in Schweden durch die Decke schiessen. Das tun sie aber bisher nicht. Die Kurve scheint sich überall, wo es die erste Welle gab, abzuflachen - auch in Schweden. Ein signifikanter Unterschied ist nicht zu sehen.

Was bedeutet das? Hätten die Massnahmen der letzten Wochen, die kleine und grosse Unternehmen an ihre Grenzen und vermutlich auch einige dahinter brachten, die von uns auch privat so viel abverlangten, hätten diese Massnahmen nicht verhängt werden sollen? Wer das behauptet, wäre grob unfair. Auf uns rollte einen Virus-Tsunami zu und wir konnten ihn nicht einschätzen. Wer hätte da nicht erstmal eine Vollbremsung hingelegt, wenn dadurch Dramen wie das in der völlig auf dem falschen Fuss erwischten Lombardei hätten vermieden werden können? Nein, unsere Politiker haben eine gute, ja sogar grossartige Figur gemacht. Das war eine Extremsituation und sie wurde äusserst professionell gemeistert. Wir wussten nicht, was da auf uns zukommt.

Aber jetzt ist die Zeit gekommen zu reflektieren. Die eben gleichen Politiker könnten dabei versucht sein, auch Massnahmen nachträglich zu rechtfertigen, die so vielleicht nicht flächendeckend notwendig gewesen wären. Politiker sind Überlebenskünstler und müssen sich immer Gedanken machen, was ihre Wähler akzeptieren, sonst sind sie ganz schnell Geschichte. Eine massive Welle von Todesfällen zu produzieren, aus Leichtfertigkeit, das wäre das Ende der Karriere (und zu recht). Die Wirtschaft in Grund und Boden zu fahren ist auch schlimm, aber man kann es rechtfertigen mit einem höheren Ziel, dem Retten von Menschenleben. Natürlich ist der Druck der Wirtschaft auch enorm. Aber Bilder im Fernsehen von überfüllten Krankenhäusern, mit Menschen, die auf den Gängen ohne Beatmungsgeräte unnötig leiden, ja sterben, das ist ungleich schlimmer. Und das ist es auch. Aber weil dem so ist, könnten Politiker versucht sein, auch Massnahmen zu rechtfertigen, die, wie wir jetzt ggf. erkennen müssen, wenig bringen. Wir müssen die Analyse darum mit offenen und auch etwas wachsamen Augen angehen.

Warum ist es so, dass sich - bei durchaus unterschiedlichen Vorgehensweisen in der Schweiz und Deutschland, in Schweden und Grossbritannien, oder auch in Italien, Spanien und den USA - die Zahl der Neuinfektionen eigentlich überall nunmehr reduziert? Wie gravierend diese Länder (bzw. einzelne Regionen in diesen Ländern) zunächst betroffen waren, das ist unterschiedlich und hat vermutlich schlicht mit Glück oder Pech zu tun. In Köln feierten 100'000de Karneval noch im Februar. Daraus entstand kein Hotspot wie in Bergamo. Und im kleinen Heinsberg reicht eine kleine Karnevalsparty und man hat Ausbreitungszahlen wie in den heftigst betroffenen Regionen. Es war einfach Zufall, ob es eine Region erwischte oder nicht.

Was aber bedeutend ist: Die Kurven flachten bald überall ab, obwohl die ergriffenen Massnahmen sehr unterschiedlich waren. In der Schweiz dürfen bis zu fünf Personen zusammenkommen, in Deutschland zwei, in manchen Ländern darf man das Haus nicht mehr verlassen, in Schweden wiederum entscheidet jeder für sich. Und dennoch der gleiche positive Trend.

Offensichtlich gibt es etwas, was all diesen Ländern gemeinsam ist und uns hilft, die Herausforderung nun doch zunehmend souverän zu meistern. Die Antwort liegt wohl bei uns selbst. Die ungebremste COVID-19-Welle flösste uns Respekt ein. Wir akzeptieren die Gefahr und haben Verantwortung übernommen - aus Bürgersinn, Solidarität oder purer Angst. In manchen Regionen klappte dies besser als in anderen. Aber insgesamt ist überall eine Verhaltensänderung festzustellen. Wir waschen unsere Hände bewusster und intensiver, wir halten etwas mehr Abstand voneinander, grüssen winkend, wir husten in die Armbeuge und desinfizieren.

Offenbar sind es diese Hygieneregeln, die die Ausbreitung verlangsamen. Denn genau diese sind überall gleich. Massnahmen wie Lockdown und Stay-at-home waren es dagegen vermutlich nicht. Im Rückblick müssen wir erkennen, dass diese Schritte voreilig waren. Der positive Effekt stellte sich auch ohne Lockdown ein.

Wenn nun diese Hygieneregeln entscheidend sind, dann ist auch plausibel, dass man unter Einhaltung dieser Regeln - wie in Schweden - Geschäfte und Restaurants durchaus offenhalten, mit dem Bus zur Arbeit fahren oder Freunde treffen kann - und die Dinge daraufhin keine fundamental andere Entwicklung nehmen werden wie an Orten, an denen drastischere Massnahmen flächendeckend bestehen - wenn man denn die Hygieneregeln beachtet.

Wir werden wohl im Rückblick feststellen, dass Manches sehr effektiv, manches aber auch weniger notwendig war. Wer einem Politiker dann allerdings Vorwürfe macht, der wäre grob unfair. Die letzten Wochen waren eine extreme Situation, die extreme Massnahmen erforderte. Nun aber sollten wir analysieren und lernen. Wir müssen sogar. Sonst implodiert unsere wirtschaftliche Existenz. Auch darum ist Schweden der weisere Weg. So, wie man es dort macht, hält man auch 1-2 Jahre durch.

Denn COVID-19 wird wahrscheinlich noch eine rechte Weile bei uns bleiben. Und dann wird es ggf. COVID-21, 25... geben - wer weiss... Wir werden einen anderen Hygienestandard pflegen müssen und das vermutlich für die nächsten Jahre (und warum nicht für immer?). Aber wir werden - und wie ich glaube, schon wieder in wenigen Wochen - ein weitestgehend normales Leben leben. Was sollte auch die Alternative sein?

Wir werden mit COVID-19 leben lernen. Uns bleibt ohnehin nichts anderes übrig, falls nicht ein Wunder kurzfristig eine Therapie hervorbringt. Herdenimmunität anstreben als Lösung des Problems ist jedenfalls keine Option. Die gibt es in einem spürbaren Ausmass vielleicht an den Orten, wo es ganz schlimm war -  in Heinsberg, in Bergamo, in New York. Aber über grössere Regionen, ja Länder hinweg wurden die weitaus meisten von uns bisher nicht infiziert und sind damit auch nicht immun. Mit den jetzt erfolgreich verlangsamten Ansteckungsraten würde es sehr lang dauern, bis eine ausreichende Zahl (man spricht von 60-70 % der Bevölkerung) erreicht wäre und die "Herde" damit immun. Und dann hält diese Immunität ggf. auch nicht ewig an. Dazu würden wir beim Anstreben einer Herdenimmunität die, die sehr alt sind oder eine Vorerkrankung haben, dem Virus ausliefern. Das ist kein gangbarer Weg. Wir müssen COVID-19 als Realität akzeptieren und dabei die Infektionsraten niedrig halten.

COVID-19 ist keine Katastrophe. Ein Virus, der so ansteckend wäre wie ein Schnupfen, aber die Todesrate von Ebola hätte (an Ebola versterben zwischen 30-90%!) - das wäre die blanke Katastrophe. Solle uns dies einmal blühen, sind wir hoffentlich besser vorbereitet. Und so zynisch es klingt, wie müssen vor dem Hintergrund der Gefahr eines solchen Killervirus fast dankbar sein, dass wir gerade die Erfahrung mit COVID-19 machen und hoffentlich daraus lernen (ausreichend Ventilatoren, Masken, etc. auf Lager - jederzeit!).

COVID-19 hätte sich nicht ungebremst ausbreiten dürfen. Aber es zeigt sich auch: COVID-19 ist vor allem ein Risiko für einschlägig Vorerkrankte und Alte. Sie gilt es unbedingt zu schützen. Aber es gibt keinen Grund für Panik unter nicht Vorerkrankten im jungen bis mittleren Alter, insoweit wir den gegenwärtigen Trend weiter beibehalten können. Ein Augenöffner sind hier die Zahlen vom Hotspot New York City (siehe Tabelle). Das Risiko, in New York City bis Mitte April gelebt zu haben, in der dramatischen Phase der Pandemie, war vergleichbar mit dem Risiko eines fatalen Autounfalls und für eine Person ohne Vorerkrankung unter 65 sogar deutlich geringer. Dies zu realisieren ist eben auch wichtig, damit wir möglichst sachlich die richtigen Entscheidungen treffen. Wir müssen handeln, ja, aber wir sollten nicht kopfscheu werden. 




Natürlich wird es immer wieder Meldungen von Ansteckungen geben. Es wird, insbesondere im Herbst/Winter, fast sicher neue Ausbrüche geben. Und dann sind auch entschiedene Massnahmen notwendig. Aber das ist das Leben und das war es vor COVID-19 auch schon. Wir akzeptieren de facto über 600‚000 Todesopfer pro Jahr im Strassenverkehr weltweit. Wir werden so auch mit einer gewissen Anzahl von Todesopfern infolge von COVID-19 leben. Es dürfen einfach nicht zu viele sein, wir dürfen Menschenleben nicht fahrlässig riskieren. Jeder von uns hat es in der Hand, das Risiko durch Hygienemassnahmen zu reduzieren.

Und wenn es einen dann doch erwischt? Ich denke, wir sollten vor COVID-19 nicht eine ungewöhnliche Angst haben, also nicht mehr als vor anderen Gefahren des täglichen Lebens. Im Moment sind viele von uns kopfscheu durch die enorme Präsenz des Themas in den Medien - die völlig verständlich ist, aber eben, man stelle sich mal vor, Strassenverkehrsopfer würden mit Fernsehkamera mit ins Krankenhaus begleitet. Man würde nur noch zittrig am Lenkrad sitzen. Und all die sonstigen schlimmen Krankheiten - wir wollen die Bilder dazu nicht immer vor Augen haben. Bei COVID-19 muten wir uns aber genau das zu. Das hilft nicht immer bei einer nüchternen, sinnvollen Entscheidungsfindung.

Auf mein völliges Unverständnis treffen hier auch die unsäglichen Tabellen, die man überall sieht, die (1) die Zahl der bekannten Infizierten mit (2) der Zahl der Verstorbenen ins Verhältnis setzen. Demzufolge würden dann in Spanien zum Beispiel über 10 % der Infizierten sterben. Ein fertiger Quatsch. Wir müssen die Anzahl aller Infizierten kennen, was nur durch repräsentative Studien möglich ist, wie sie z.B. in Heinsberg oder New York erstellt wurden. Und dann zeigt sich sehr schnell, dass es nicht über 10% sind, sondern eher 0,5% - und dies über alle Altersklassen hinweg und inkl. einschlägig Vorerkrankter. Meinen Eltern, beide in den Achtzigern, empfehle ich, besondere Vorsicht walten zu lassen. Menschen jüngeren bis mittleren Alters ohne Vorerkrankung tun dies. um ggf. andere nicht anzustecken, also die Ausbreitung zu fördern. Aber ihr eigenes Risiko ist deutlich geringer. Ich meine, das sollten wir deutlicher sagen, um zu den richtigen Entscheidungen zu kommen.

Ich persönlich glaube, dass wir bald alle so mit COVID-19 leben werden, wie es die Schweden derzeit tun. Nur so können wir es auch 1-2 Jahre durchhalten.

Ich selbst sehe mich, sobald es erlaubt ist, wieder im Restaurant sitzen. Der Sommer macht die Entscheidung leicht, denn draussen mit etwas Abstand,  das sollte unbedenklich sein. Aber ich setze mich dann auch wieder rein ins Restaurant - nicht in ein enges Bistro, wo man Schulter an Schulter sitzt, aber gern mit etwas Abstand zwischen den Tischen. 

Stickige, vollgepackte Bars werde ich wohl noch eine rechte Weile nicht aufsuchen. Auch ein Rockkonzert, das sehe ich nicht. Ein Fussballspiel im Stadion anschauen? Schon eher, weil draussen. Aber am liebsten, wenn 100% Maskenpflicht besteht. Das gleiche für Busse, Züge und Flugzeuge - wenn alle Passagiere geeignete Masken tragen, bin ich dabei. „Alle“ ist dabei für mich entscheidend. Denn die Masken schützen am meisten, wenn die, die infizieren könnten, sie auch tragen. Und die wären bei 100 % Maskenpflicht dabei.

Das Leben wird sehr bald schon wieder weitestgehend normal anmuten. Wir werden lernen, souverän mit COVID-19 zu leben, mit ein paar zusätzlichen Hygieneregeln, die ohnehin immer schon Sinn machten. Machbar.

Und dann sollte es nur noch um Eines gehen: Lernen aus dieser Erfahrung und vorbereitet sein. Denn alle 3 Jahre können wir so nicht verfahren. Klar, man kann sich fragen, warum wir nicht schon dieses Mal vorbereitet waren. Dass es eine Pandemie geben könnte, wurde immer wieder besprochen, teilweise testweise durchgespielt. Aber vermutlich ist die harte Realität, dass es erst einmal passieren musste, bis der Groschen wirklich fällt. Ich bin sicher, er ist gefallen. 

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