Montag, 3. Oktober 2016

Sich den Realitäten stellen. Mut zur Krise. Morgen gestalten.

...und: Die 4. Säule - Pensionskasse ab 18


"If a trend cannot prevail, it will end“

Mit dieser scheinbaren Plattitüde teilte mein ehemaliger Volkswirtschaftsprofessor Charlie Plosser mit uns Studenten gern eine fundamentale Weisheit: Fehlentwicklungen enden häufig von selbst. Oft muss man sie einfach nur passieren lassen. Greift man hektisch ein, kann dies zu einem hohen Preis kommen. Geradezu fatal ist, wenn die Intervention eine wichtige Korrektur verhindert. Die derzeitige Nullzinspolitik ist ein gutes Beispiel dafür. 

Wir müssen uns den Realitäten stellen. Verschiedene Regionen dieser Welt, denen es einmal vergleichsweise gut ging, auch und insbesondere in Europa, haben sich aus dem Markt rausgepreist. Kaum jemand wird zum Beispiel dieser Tage eine Fabrik in Griechenland errichten. Die Rahmenbedingungen stimmen schlichtweg nicht. Das ändert sich auch nicht, wenn die Zinsen gegen Null tendieren. Es muss uns nicht verwundern, wenn die gigantischen Liquiditätsspritzen der Europäischen Zentralbank effektlos verpuffen.

Was ist denn die Herausforderung der Stunde? Nun, offensichtlich ist, dass Digitalisierung und Automatisierung mit Siebenmeilenstiefeln voranschreiten. Dazu können mehr und mehr Regionen invdieser Welt, die zuvor keine Konkurrenz darstellten, auch qualifizierte Arbeitskräfte stellen. Beides spricht gegen Investitionen in ein vergleichsweise teures Europa. Deutschland und die Schweiz mögen derzeit eine Sonderkonjunktur erleben, die ihre eigenen Gründe hat. Doch viele andere Länder spüren deutlich, dass sie sich im Abseits befinden. Sie sind nicht mehr wirklich eine attraktive Option. 


Was wir erleben, ist allerdings nicht der Anfang vom Untergang der Welt, sondern eine Häutung der Schlange. Wir dürfen uns auf wundervolle Zeiten freuen. Wie schon die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert, so wird auch die heutige Digitalisierungs- und Automatisierungswelle zu einem nie dagewesenen Wohlstandsniveau führen. Die Veränderungen werden weiter dramatisch sein und die Produktivitätszuwächse so enorm, dass wir vermutlich einen ganz anderen Lebensstil pflegen werden, mit weniger Arbeit für den Lebensunterhalt, dafür mehr Zeit für die persönliche Entfaltung. 

Der Weg hin zu diesem neuen, besseren Leben droht allerdings schmerzhaft zu werden. Wir haben es in der Menschheitsgeschichte nur selten geschafft, Entwicklungen dieser Art proaktiv zu begegnen. Fast immer liefen wir zuerst in eine Sackgasse, weil die Beharrungskräfte zu gross waren und man sich nicht rechtzeitig anpassen wollte. Die gute Nachricht war bisher immer, dass man dann wohl gegen die Wand fuhr, anschliessend aber ein höheres Lebensniveau entstand. Schmerzhaft bleibt die Fahrt in die Sackgasse in Form einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise, Staatspleite und/oder Währungsreform - eben das Gruselkabinett, das man dieser Tage um möglichst jeden Preis vermeiden will. Das ist nur legitim. Die Zinsen aber auf Null zu setzen, das ist kein probates Mittel, unsere Volkswirtschaften durch den grossen Wandel zu führen.

Viele Menschen nehmen die Hilflosigkeit der westlichen Regierungen beim Versuch, den grossen wirtschaftlichen Meltdown abzuwenden, wahr. Das ist nicht mehr und weniger als ein Beweis der Existenz von Schwarm-Intelligenz. Allein die Auswege, die dieser Tage oft gesucht werden, sind irritierend. Persönlichkeiten wie Donald Trump und deren Programm, namentlich Abschottung und Protektionismus, erhalten breite Unterstützung. Man sucht nach einfachen Lösungen, sehnt sich nach dem Gestern, weil man das Gefühl hat, schleichend abgehängt zu werden, die Dinge nicht mehr zu verstehen, gewisse Entwicklungen einfach davongaloppieren. 


Wir müssen aufpassen, dass wir das Feld nicht den Kopfverdrehern überlassen. Mehr und mehr kehrt Erschöpfung ein. Man spürt eine battle fatigue, eine gewisse Müdigkeit, die Diskussion fortzusetzen, weil man einfach zu lange schon auf der Stelle tritt. Europa in der Krise – das Thema wurde in hunderten Talkshows besprochen. Es wird dabei immer das Gleiche wiederholt. 

Hier ein Versuch, der Situation etwas mehr auf den Grund zu gehen: Es ist so klar wie Klossbrühe, dass uns ein Zeitalter bevorsteht, in dem der Faktor (menschlicher) Arbeit für die Wertschöpfung immer weniger wichtig wird. Arbeitsschritte fallen durch technologische Lösungen entweder ganz weg, wie z.B. der Fahrdienst Uber die Taxizentrale überflüssig macht (das Internet ist unter anderem ein gigantisches "cut the middle man"-Phänomen). Oder sie werden durch Maschinen effizienter, schneller und sicherer erbracht, wie sich dies bei den selbstfahrenden Autos abzeichnet. 

Natürlich werden auch neue Jobs entstehen. Aber das wird nicht in der Geschwindigkeit passieren, in der die alten verschwinden. Ohnehin stellt sich, wie zuvor erwähnt, die Frage, ob wir Menschen in Zukunft noch gleich viel arbeiten wollen wie heute (siehe auch Blogbeitrag: Die 20-Stunden-Woche). 

Vor diesem Hintergrund würde man von den gestaltenden Kräften erwarten, dass sie unser sehr stark auf Arbeitsleistung ausgerichtetes System schrittweise umbauen. Wir müssen dabei weg davon kommen, dass ein wesentlicher Teil des Steueraufkommens und der sozialen Systeme an der Erbringung von bezahlter Arbeitsleistung hängt. Das war einmal ok und wir finden es immer noch normal. Aber es wird zunehmend problematischer, wenn man die Faktorkosten der Arbeit weiter sehr belastet. Und der Trend ist längst noch nicht umgekehrt. Die finanziellen Lasten, die ein Arbeitnehmer zu tragen hat, nehmen eher zu, als dass sie sich reduzieren. Dies alles belastet die Wettbewerbsfähigkeit der menschlichen Arbeit und führt dazu, dass immer mehr Regionen und ihre Arbeitnehmer ins Abseits geraten. 

Auch dieses Phänomen wird durchaus wahrgenommen. Doch gleitet die diesbezügliche Diskussion in kontraproduktive Richtungen ab. So wird ein steuerfinanziertes bedingungsloses Grundeinkommen vorgeschlagen und stand in der Schweiz bereits zur Abstimmung. Welch ein grober Konzeptfehler (und richtigerweise vom Schweizer Volk dann auch deutlich abgelehnt). Wir würden das Problem der finanziellen Belastung derer, die bezahlte Arbeit verrichten, nur noch vergrössern. 

Wir müssen über Systeme nachdenken, die den von Digitalisierung und Automatisierung stark profitierenden Faktor Maschine in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Diese Maschinen gehören Unternehmen. Steigert sich deren Effizienz durch technologischen Fortschritt, so erhöht dies den Wert der Unternehmen, denen sie gehören. Und so wäre es doch sinnvoll, Lösungen zu suchen, in denen die Gesamtbevölkerung mehr am Produktivkapital und den positiven diesbezüglichen Entwicklungen beteiligt wird. Auch wenn dies heute noch etwas absurd klingen mag, wäre doch allemal besser als ein steuerfinanziertes Grundeinkommen, eine Art 4. Säule der Rentenversicherung mit moderaten Auszahlungen (aus Dividendenerträgen) ab dem 18. Lebensjahr zu schaffen. Das mag auf den ersten Blick utopisch klingen in einer Zeit, in der wir eher über die Erhöhung des Renteneintrittsalters sprechen. Aber dies sind zweierlei Paar Schuh. Bei der 4. Säule ginge es um eine Beteiligung der Gesamtgesellschaft am Produktivkapital als Teil des Lebensunterhalts. Das hat nichts mit Altersvorsorge an sich zu tun, sondern vielmehr mit dem Umstand, dass in einer mehr oder weniger nahen Zukunft vermutlich ohnehin jeder Mensch seinen Lebensunterhalt zum Teil aus der Produktivität von Maschinen bestreitet und zum Teil aus seiner menschlichen Arbeitsleistung.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass eine solche 4. Säule grösserer Eingriffe in unser Wirtschaftssystem bedarf, weil diese Säule ja einen Kapitalstock bräuchte. Möglich wären hier z.B. zwingende (moderate) Kapitalerhöhungen, die Pensionskassen für eben diese 4. Säule zugute kämen. Das mag radikal, weil nach einer Teilenteignung, klingen. Aber was wäre die Alternative? Ein gigantisches, steuerfinanziertes Umverteilungssystem? Wären entsprechende Steuern denn nicht auch eine Art Enteignung? Die Schaffung einer 4. Säule mit einer Zahlung aus Dividendenerträgen ab dem 18. Lebensjahr wäre ein Schritt in Richtung Gesellschaft von morgen. 

Der Vorschlag mag nicht komplett ausgereift sein. Er dient aber sicher mal als Beispiel dafür, wie Lösungsfindung an der Wurzel eines Problems ansetzen kann. Menschliche Arbeit wird zunehmend verzichtbarer  Wir kommen nicht weiter, wenn wir endlos im eigenen Sud schmoren und uns "unter Drogen" setzen, bis es knallt - und Nullzinsen sind nichts anderes als wirtschaftliches Morphium, das uns betäubt und die wahren Herausforderungen verschwimmen lässt. Wir müssen den Dingen vielmehr auf den Grund gehen, damit überzeugen und den Menschenfängern das Handwerk legen, die mit ihren Retro-Visionen auf Stimmenfang gehen, keine Konzepte für die Herausforderungen der Zukunft haben, aber durch ihre Rückwärtsgewandtheit ein diffuses, mollig warmes Gefühl erzeugen. Gestern ist vorbei und kommt nicht zurück. Heute ist es auch bald und wir sollten uns nicht zu sehr daran klammern. Wir müssen ein gewisses Mass an kreativer Zerstörung zulassen und zugleich das Morgen gestalten, Natürlich ist das alles eine grosse Herausforderung. Aber was ist die Alternative? 

Rechtliches

Beiträge und Kommentare geben jeweils die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Es handelt sich nur um Veröffentlichungen von Martin Hellweg, wenn er auch der Autor ist. Alle Veröffentlichungen von Martin Hellweg macht er als Privatperson, nicht in Ausübung einer Funktion oder Tätigkeit.

Wenn nicht anders gekennzeichnet, liegt das Urheberrecht für die Beiträge (Texte, Bilder, Videos) und Kommentare beim Autor. Möchten Sie einen Text, ein Bild oder ein Video für eine Publikation nutzen, so wenden Sie sich bitte an hellweg.blog@gmail.com