Sonntag, 13. Dezember 2020

Blindflug

Mit nahezu dreister Konsequenz werden täglich die vom RKI gemeldeten Infektionszahlen kommuniziert, analysiert, Kaffeesatz gelesen. Dabei liegen diese Zahlen vermutlich um ein Vielfaches daneben. 

Wir hatten im November mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die vom RKI berichteten 10'000 - 20'000 Infizierten pro Tag in Deutschland, sondern ein Vielfaches davon. Es müssen um die 60'000 bis 160'000 Infizierte pro Tag gewesen sein. 

Denn: Mittlerweile haben wir recht robuste Zahlen bzgl. der Letalität von COVID-19. In einer Mitte Oktober veröffentlichten Metastudie der WHO wurde die Letalität aus 61 Studien rund um den Globus ermittelt. Der Median für die Letalität liegt bei 0,27 %. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass Deutschland ein zumindest durchschnittliches Gesundheitssystem hat, darf man diesen Wert auch für dort annehmen. Zumindest sollte er nicht höher sein. 

Es starben im November leider oft mehrere hundert Menschen pro Tag mit COVID-19. Das heisst zwangsläufig, dass dem vor ca. 18 Tagen (durchschnittliche Dauer der Erkrankung bei Todesfällen) besagte 60'000 bis 160'000 Infizierte pro Tag gegenüberzustellen sind. Sonst könnte es nicht so viele Tote geben.

Es haut mich schlicht um, dass dies nicht wenigstens im Nebensatz erwähnt wird. Entweder glaubt man der wissenschaftlich recht robust ermittelten Letalität der WHO nicht - das sagt aber niemand so klar und bietet alternative, wissenschaftlich ermittelte Zahlen -, oder die dem RKI gemeldeten Infektionszahlen sind dramatisch zu niedrig.

Das ist kein Vorwurf an das RKI bzgl. der gemeldeten Zahlen. Man kann ja nur wissen, was man weiss. Aber diese Zahlen gehören qualifiziert. Die Dunkelziffer ist riesig. Und das muss doch prominent erwähnt werden. Wir sehen vermutlich nur einen Bruchteil vom Eisberg. Jegliche Analyse von Trends, von R-Werten und dgl. muss doch dann mit grösster Vorsicht vorgenommen werden. Denn wir finden nur die wenigsten Infizierten und es kann gigantische Fehlermargen geben.

Genauso falsch ist, wenn Kanzlerin und Ministerpräsidenten davon sprechen, dass der November-Lockdown ein Teil-Erfolg war, weil man das Wachstum zum Halten gebracht hat, ein Plateau zumindest geschaffen. Hat man wohl eher nicht. Man kann es über die gleiche Methode ableiten. Wenn man die Toten pro Tag als Basis nimmt und hochrechnet, also daraus die vor um die 18 Tage zuvor Infizierten ableitet, sieht man kein Plateau. Die Zahl der Infizierten stieg vielmehr über den ganzen November, siehe blaue Linie in der folgenden Grafik:


Wer die Werte überprüfen will, hier die zugrundeliegende Tabelle:


Grün hinterlegt die vom RKI berichteten Fallzahlen, blau hinterlegt meine Berechnung der Infiziertenzahlen über die Letalität hochgerechnet. Man möge mich gern kontaktieren, wenn ich einen Fehler gemacht haben sollte. Ich denke aber, die Zahlen sind robust. 

Ich möchte niemandem etwas Böses unterstellen. Ich bin überzeugt, die Entscheider an den entsprechenden Orten wollen die Pandemie mit besten Kräften bekämpfen. Aber es wird kein reiner Wein eingeschenkt. Man macht sich nicht die Mühe, echte Transparenz zu schaffen.

Ähnlich der Umgang mit dem Musterknaben Tübingen. Es lässt sich wirklich sehen, was diese Stadt erreicht hat. Über Wochen kein Infizierter über 75 Jahre, keine überlasteten Krankenhäuser, eine diesbezüglich wirklich stabile Situation. Tübingen ist nicht coronafrei. Aber das ist vielleicht ja auch gar kein mögliches Ziel. Tübingen hat aber einen Weg gefunden, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Dort hat man analysiert, wo das zentrale Problem ist. COVID-19 stellt eine besonders grosse Gefahr für ältere Menschen dar. Gemäss Boris Palmer, dem Bürgermeister von Tübingen, ist die Gefahr eines 80-jährigen 3000 mal so gross wie die eines 20-jährigen. Das heisst nicht, dass der 20-jährige einfach tun und lassen kann, was er will. Aber es ist doch klar, dass wir die Älteren besonders gut schützen müssen. Und das macht Tübingen hervorragend. Gratis FFP2-Masken, Taxifahrten für ältere Menschen zum ÖV-Tarif, Einkaufen vormittags exklusiv für über 65jährige, Schnell-Tests auf dem Marktplatz, bevor man die Oma besucht. Mit diesen und noch einigen weiteren Massnahmen scheint man die Herausforderung ganz gut in den Griff zu bekommen.

Lernt man aus den Erfahrungen in Tübingen? Lang hat man diese "Best Practice" schlicht ignoriert. Jetzt gibt's hier und da mal ein Lob in dieser oder jenen Talkshow. Aber als kürzlich Gesundheitsminister Spahn von Sandra Maischberger konkret nach Tübingen gefragt wurde - siehe Interview vom 9.12. ab 7min 20sek, hat er in seiner Antwort nicht einen einzigen Satz darüber verloren. Wo sind da die inneren Barrieren? Spahn wich aus mit einem Dank an alle Pflegekräfte, was immer gut ankommt. Warum man auf Tübingen nicht mehr eingeht, bleibt rätselhaft.

So beeindruckt ich vom Handeln der Protagonisten während der ersten Welle war, so enttäuschend ist die derzeitige Performance. Falsche Analysen. Es waren in den letzten Monaten nicht die Reisen, Restaurants und Hotels, die die Pandemie trieben, sondern Schulen, Arbeitsorte und Öffentlicher Verkehr. Falscher Fokus. Man lernt nicht von Erfolgen wie Tübingen, sondern zerredet die Dinge, verfängt sich im Kleinklein, flüchtet in Allgemeinplätze. Falsche Schlussfolgerungen. Mehr vom Gleichen, obwohl es vorher schon nicht funktionierte. 

Entweder gehen wir die Dinge konsequent an. Oder wir lassen es offensichtlich einfach laufen. Was wir zur Zeit machen, ist lauwarm und unterkritisch. Es wird, so meine Vermutung - und hier habe ich im Rückblick sehr gern unrecht, befürchte aber, es ist nicht so - wieder nicht reichen, um die Zahlen runterzubekommen. 

Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Oft wird nach Asien geschielt. Doch das nützt wenig. Wir haben ganz andere Gesellschaftsstrukturen. In vielen asiatischen Staaten kann eine Regierung eine Weisung ans Volk rausgeben, und das wird dann quasi unisono befolgt. Wir leben aber in sehr pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaften. Und solange uns nicht grad etwas auszulöschen droht, möchte ich das auch nicht aufgeben, viele andere sicherlich auch nicht. Querdenker und Coronaleugner nerven, und das sogar sehr. Aber die Alternative (lauter Mundtote) ist keine. 

Im Grundsatz ist das schwedische Modell das, was bei uns funktioniert. Hätte man dort die ältere Bevölkerung von Anfang an gut geschützt, tübingenstyle, würde man Schweden heute als Kardinalsweg betrachten - wenn man denn konsequent testet und schnell reagiert. Das hat nicht geklappt.

Das Kind ist mittlerweile im Brunnen. Wir haben es vermasselt, zu viele Infizierte, weil Schulen, Arbeitsorte und ÖV zu lange tabu waren, stattdessen Restaurant-Schliessungen für die Galerie. Jetzt hilft nur noch ein kompletter Lockdown für eine kurze Zeit, dafür für alle, siehe Blogbeitrag: Der einzige Lockdown, der funktioniert. Seitdem sind nun bald zwei Monate vergangen. Es mehren sich langsam die Stimmen, die Ähnliches erwägen. Warum erst jetzt?

Im Fazit:

- Unsere Analysen müssen besser werden. Es gibt Daten, die klar darauf hinweisen, dass wir hier einen kläglichen Job machen. Wir haben ein ganz anderes Infektionsaufkommen als die gemeldeten Fälle suggerieren. 

- Wir müssen von Erfolgsbeispielen lernen. Tübingen z.B. sollte im Mittelpunkt der Diskussion stehen. 

- Der Karren ist mittlerweile im Dreck. Wir müssen einen kompletten Lockdown durchführen, inklusive Schulen/Arbeitsorte/ÖV. Sonst funktioniert es nicht.

Wir finden hoffentlich bald zur notwendigen Transparenz und Konsequenz.

Mittwoch, 28. Oktober 2020

Der einzige Lockdown, der funktioniert

Schwerkranke in Turnhallen. Umfunktionierte Kühlhallen, um die vielen Toten zu lagern. Ärzte, die die Triage anwenden müssen. Niemand kann das wollen. Wenn wir es irgendwie können, müssen wir dieses Szenario abwenden. Es gibt Möglichkeiten dazu. Aber das sind nicht die, die derzeit diskutiert werden. So eindrucksvoll die Politik in den ersten Wochen der Pandemie handelte, so verwirrt erscheint sie heute.


Noch immer werden Massnahmen vorgeschlagen, von denen man glaubt, mit ihnen bei der Bevölkerung punkten zu können, anstatt solche, die wirklich einen grossen Hebel haben. Man kritisiert das Reisen, selbst wenn der Reisende nur in eine einsame Hütte in den Bergen oder ein Strandhäuschen fährt. Und gleichzeitig pendeln täglich Millionen im öffentlichen Verkehr von A nach B, nahezu alle mit unbrauchbaren Masken, die vor Aerosolen nicht wirklich schützen, da sie nicht dem Standard FFP2 (besser FFP3) entsprechen. Man steht viel zu eng Schulter an Schulter in Bussen und Bahnen, nur um dann zur Arbeit zu gehen, wo viele jobbedingt interagieren müssen mit anderen. Home-Office geht für den Bürohengst (und wird dort hoffentlich flächendeckend gemacht). Für den Kassierer im Supermarkt, den Friseur, die Sanitärmeisterin geht es nicht. In den meisten Berufen ist menschliche Interaktion unvermeidbar.

Man spricht von einem Lockdown light, einem Slowdown. Zur besagten Arbeit soll man gemäss diesen Konzepten weiter mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Kitas und Schulen sollen offen bleiben. Das ist zu halbherzig.


Und wenn es dann nicht funktioniert - was es offensichtlich nicht tun wird -, haut man noch mehr auf die drauf, die eigentlich schon jetzt Kontakte begrenzt halten, macht ihnen ein schlechtes Gewissen für einen Restaurantbesuch. Natürlich ist es birnenweich, eine Party in irgendeinem schlecht belüfteten Club zu feiern. Aber die weitaus meisten von uns haben ihre Gefahrenherde woanders.


Wir müssen einfach akzeptieren: das Virus interessiert nicht, ob wir aus wichtigem oder weniger wichtigen Grund interagieren. Und so bleibt es genauso birnenweich, ohne FFP2/3-Maske in eine vollgepackte Tram zur Stosszeit zu steigen. 

Es gibt nicht genug FFP2/3-Masken. Noch immer nicht. Dabei hat man bis dato z.B. in Deutschland eindrucksvolle € 1.4 Billionen ausgegeben oder Garantien dgl. ausgesprochen. Legt man die aktuellen Schätzungen zu den COVID-19-Todesraten zugrunde (irgendwo zwischen 0.2 und 0.5 %), würden in Deutschland damit durch Verhindern der kompletten Durchinfektion ca. 250,000 COVID-19 Tote verhindert. Ca. 10,000 Tote haben wir schon, also muss man die 1.4 Billionen durch 240,000 teilen. Man kommt auf 5.8 Millionen € pro verhinderten Toten. 
5.8 Millionen € pro verhinderten Toten Stand heute - eine Menge Geld. Und je weniger es geling, 240,000 zu retten, je mehr man ausgibt, desto höher wird der Wert noch.


Ich sage nicht, dass es nicht das Geld wert ist, Menschenleben zu retten. Aber was hat man damit Sinnvolles gemacht? Warum haben wir nicht alle mittlerweile reichlich Bestand an FFP2/3-Masken? Ein Bruchteil der 1.4 Billionen sollte für die Umrüstung von geeigneten Fabriken ausreichen, um FFP2/3-Masken zu produzieren. Und man hatte ein halbes Jahr Zeit. Das ist reichlich Zeit.


Das sind diese Inkonsistenzen, die mein Vertrauen in die handelnden Personen schwinden lassen. Immer wieder wird gesagt „wir wissen noch zu wenig“. Vermutlich will man damit Angst generieren, von der man sich erhofft, dass die Leute vorsichtig sind. Damit erreicht man aber nicht die, die die Regeln missachten, dort kommt diese Nachricht nicht an. Man erzählt es immer wieder den Gleichen, die völlig kopfscheu werden darüber.

Ich sehe nur einen Weg, wie wir die nächsten Monate überstehen können: Wir definieren zwei Phasen:

Phase I: 

Für die unter 65-jährigen Leben nach dem schwedischen Modell (aber: "Tübinger" Schutz der Älteren, das hatte Schweden nicht im Griff), AHA-Regeln einhalten, keine Indoor-Grossveranstaltungen, sonst aber das normale Leben, inklusive Reisen (aber keine Strand- oder Skiparties), Restaurant, Fussballstadion, etc.
Es wird normal gearbeitet und zur Schule gegangen. 
Solch eine Phase kann durchaus mehrere Monate dauern, bis dann Phase II ansteht. Die gute Nachricht: Phase II ist kurz und danach folgt wieder Phase I.

Phase II: 

1-2 Wochen bleibt jeder zu Hause. Ausnahmen werden extrem streng gewährt. Ärzte und Pflegepersonal müssen natürlich weiter arbeiten, die Polizei muss Plünderungen und anderen Unfug verhindern, Wasser/Energie/Strom müssen zur Verfügung stehen. Aber das ist es dann bald auch einmal. Jeder sonst bleibt zu Hause. Der Müll wird für die Zeit gesammelt. Und in den Supermarkt geht man vorher und kauft alles für die Zeit ein. Da gibt es halt mal nichts Frisches für 1-2 Wochen. 

Raus darf man schon, aber nur mit Abstand von 2 m zu jeder anderen Person, und nicht, um sich zu treffen, sondern für Sport, Spaziergänge, solche Dinge. 
Es wird nicht gearbeitet. Wir gehen nicht zur Schule, nicht in die Kita. 

Das sind 1-2 Ferienwochen, die man abzieht von den Urlaubstagen. Das ist der Beitrag, den jeder leisten muss.
Will man die Zeit in einer Ferienwohnung irgendwo am Strand oder in den Bergen verbringen, ist das völlig o. k. Man muss einfach eine Adresse registrieren, an der man sich dann die gesamte Woche aufhält.
Die Pointe: es ist während dieser 1-2 Wochen wirklich nahezu unmöglich, jemanden anzustecken. Natürlich, das Virus kann innerhalb des gleichen Haushaltes weitergereicht werden. Aber ca. die Hälfte aller Haushalte sind Single-Haushalte, in ca. einem weiteren Viertel wohnen nur zwei Personen. Da ist nicht so viel mit anstecken.

 

Es braucht keinen Lockdown light, mit dem der derzeitige Wahnsinn sich über Wochen, wenn nicht Monate hinzieht. Es braucht einen Lockdown hard, dafür kurz und knackig. Er wird die Zahlen nicht auf null bringen, aber so massiv runter, dass man danach wieder eine rechte Zeit normal leben kann, ausser Indoor-Grossveranstaltungen. Und immer AHA, dies konsequent mit FFP2/3-Masken.

 

Wir dürfen uns nichts vormachen, das Virus wird sich irgendwann wieder ausgebreitet haben. Das lässt sich aber in keinem Szenario verhindern. COVID-19 wird Teil unseres Lebens bleiben, bis es Mittel dagegen gibt. Das mag schnell gehen, aber bis diese uns alle erreichen, dauert es noch eine ganze Weile.

 

Mit dem oben vorgeschlagenen Modell - weitestgehend normal leben und zwischendurch immer wieder 1-2 Wochen vorgeschriebener Urlaub - wäre die Situation für eine rechte Zeit durchhaltbar. Wir würden diesen Urlaub immer dann nehmen müssen, wenn die Lage wieder bedrohlich würde. 

 

Ganz wichtig: fast keine Ausnahmen. Nahezu niemand geht zur Arbeit. Nahezu niemand fährt im öffentlichen Verkehr. Niemand trifft in diesen 1-2 Wochen auch nur einen einzigen anderen Haushalt. Und die Strafen für das Nichteinhalten sind drakonisch, gern auch gehaltsabhängig.

 

Es wäre dann bald soweit. Schaut man auf die aktuellen Zahlen, ein Lockdown hard steht wohl an. Ich würde ihn wahrscheinlich in einem Ferienhaus irgendwo an einem schönen Ort verbringen. Ausgedehnte Spaziergänge, schöne Sachen kochen, ein paar Serien reinpfeifen - so schlimm ist das nicht. Wenn man danach wieder eine Weile normal leben kann, ist es das doch allemal wert.

 

Was mürbe macht, ist dieses dauerlauwarme Vorgehen. Und jeder hat ein anderes Zielpublikum, hackt auf jemand anderen rum. Nein, wir machen das besser gemeinsam. Wir machen alle gelegentlich Urlaub. Immer mal wieder, alle gleichzeitig.

 

Vielleicht kommt man in den kommenden Tagen zu entsprechenden Sinnen. Der Zeitpunkt wäre gut. 

Donnerstag, 15. Oktober 2020

Verreist!

Es war abzusehen und niemand hätte es anders erwarten sollen: jetzt, wo Herbst und Winter vor der Tür stehen, wird sich COVID-19 wieder vermehrt verbreiten. Und weil das Virus sich nunmehr flächendeckend etabliert hat, geschieht das mehr oder weniger überall. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen. 

Wir haben keine andere Wahl, als mit dem Virus leben zu lernen. Er ist Teil unseres gesellschaftlichen Seins geworden. Und vermutlich lässt er sich nicht komplett stoppen, nicht mal mit einem Lockdown. Sobald dieser vorbei ist, kommt das Virus zurück. 

Und auch teilweise Schliessungen bringen nur begrenzt etwas. Wenn man ein Schiff mit zehn Löchern hat, nützt es eben nur begrenzt, drei davon zu stopfen, man gewinnt so Zeit. Stopft man sieben Löcher, hat man noch mehr Zeit. Und man sollte möglichst die grossen Löcher erwischen. So oder so, bahnt sich das Wasser seinen Weg, einfach in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. 

Um eine ungehemmte Ausbreitung des Virus zu vermeiden, braucht es einen langen Atem. Massnahmen müssen geeignet sein für den Marathon „Viruseindämmung“. Es ist kein Kurzstreckenlauf. 

Und es braucht Vertrauen. Vertrauen entsteht aber nicht, wenn undifferenzierten Mist erzählt wird. Noch gut in Erinnerung ist die Anfangszeit der Pandemie, in der gesagt wurde, Masken nützen nichts - genau die Masken, deren Nichttragen in gewissen Situationen dieser Tage bis zu 250 € Strafe kosten sollen. Es ist absolut richtig, es muss richtig weh tun, wenn man sich nicht an die grundlegenden Regeln zur Viruseindämmung hält (Abstand, Maske, Outdoor statt Indoor, wo immer möglich, etc.). Aber der Punkt hier ist das Vertrauen. Und das wurde erstmals beschädigt durch die Episode mit den Masken. Es mag aus Sicht der handelnden Politiker gute Gründe für diese anfängliche Irreführung gegeben haben (der Grund mag gewesen sein, dass wir nicht genug Masken hatten). Aber für mich kommt es in einer freiheitlichen Demokratie, wo wir Politiker wählen und auf die Finger schauen können müssen, nicht infrage, dass sie entscheiden, wann sie uns verkohlen, selbst für einen guten Zweck.

Auch dieser Tage postulieren einige Protagonisten Mythen, die immer und immer wiederholt werden, aber einfach nicht stimmen. Zeit, damit aufzuräumen - nicht, um verantwortungslos zu sein, sondern um klar zu sagen, was Sache ist. Ohne dass weiss sonst bald keiner mehr, was richtig und falsch ist.

Hier beispielhaft zwei Mythen rund um das Reisen.

Mythos 1: Reisen ist ein wesentlicher Infektionsherd

Die grössten „Löcher im Schiff“ bzgl. COVID-19, also die grössten Ansteckungsherde, sind nun, da das Virus breit diffundiert ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz woanders:
- die privaten Haushalte (der eigene und der von Familie und Freunden) und 
- der Arbeitsplatz.



aus: https://www.zh.ch/de/gesundheit/coronavirus/zahlen-fakten-covid-19.html, abgerufen 14.10.2020

Etwas Vorsicht ist bei dieser Statistik angebracht und man möge die unter dem angegebenen Link Qualifikationen dazu lesen. Nur ca. ein Viertel der Infizierten wissen, wo sie sich angesteckt haben. Und das sind Daten für den Kanton Zürich. Aber ich sehe 
keinen Grund, warum das nicht anderswo mehr oder weniger so gelten sollte. 

Wenn man sich nun diese Zahlen ansieht, stellt man klar fest: Reisen macht in diesen Tagen offenbar einen sehr kleinen Teil der Infektionen aus. Eigentlich müsste man klar sagen: der Löwenanteil der Infektionen kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit von ganz woanders, die beiden grössten „Löcher“ sind andere - und nicht wirklich gut zu schliessen: 

- Die privaten Haushalte kann man nicht einfach abschaffen. Und Mama und/oder Papa gehen zur Arbeit, die Kinder treffen andere solche. Einfach niemanden mehr sehen - keine Familie, keine Freunde, nicht mal zuhause, das halten auch nur sehr spezielle Freaks lang durch. Der normale Mensch braucht soziale Kontakte. Und so wird der grösste Infektionsherd wohl eine Realität bleiben: die privaten Haushalte sorgen vermutlich für die grösste Ausbreitung, nicht die zwei Wochen in der Finca im Urlaub.

- Gleiches beim Arbeitsplatz. Dort hat sich wohl für Einige das Home Office etabliert. Aber eine Menge von Jobs lassen sich einfach nicht von zu Hause machen. Und dann gibt es leider immer noch Unternehmen, die glauben, die Mitarbeiter müsste man vor den eigenen Augen im Büro arbeiten lassen. Die letzten Monate sollten das Gegenteil bewiesen haben. Solch eine Ignoranz ist natürlich sträflich. Eine ausgelassene Chance, die Virusausbreitung einzudämmen - eine viel grössere, als das Reisen zu stigmatisieren.

Wir müssen wohl akzeptieren: die grössten „Löcher im Schiff“ können wir nicht gut schliessen. Stellen wir uns besser darauf ein, das Virus breitet sich aus. Aber Menschen das Reisen zu vermiesen oder gar zu verbieten, macht wenig Sinn. Klar, Party in einer engen Spelunke im Urlaub, das geht gar nicht. Das geht aber auch zuhause nicht. Viele Menschen wollen sich aber einfach nur erholen im Urlaub, meist im Freien, in der Natur. Das erscheint sicherer als das typische Leben mit Arbeit zuhause, siehe Ststistik oben. Man sollte das auch so sagen. Jeder, der dieser Tage Zürich, München oder Köln verlässt, um irgendwo in der Idylle einen Urlaub zu machen, ist wahrscheinlich dort sicherer und trägt eher zur Reduktion der Infektionen bei, als dass er sie dadurch erhöht. Im Grossraumbüro des Arbeitgebers jedenfalls ist er ein grösseres Risiko als beim Strandspaziergang an der frischen Luft. Wir so aber nicht gesagt. Warum?

Mythos 2: Die Sommerurlaub-Rückkehrer haben aber doch gezeigt, dass Reisen gefährlich ist 

Ja und Nein. So einfach ist das nicht. Das Robert-Koch-Institut fertigte eine Statistik an, aus welchen Ländern in den Kalenderwochen 30-33 (also nach den Sommerferien) Reiserückkehrer kamen. Und was sieht man da? Relevant sind wohl eher nicht die, die mit ihrer Familie einen klassischen Urlaub gemacht haben. sondern die, die ihre Familien im alten Zuhause im Ausland besuchten.

 
aus:
https://de.statista.com/infografik/22623/anzahl-der-corona-infektionen-im-ausland-nach-laendern/


Hier zum Vergleich, hier die typischen Urlaubsländer der Deutschen: 


aus: 
https://de.statista.com/infografik/13136/reiseabsicht-und-reiseziele-der-deutschen/


Passen irgendwie nicht zusammen, die beiden Tabellen, oder? Die Länder, aus denen die meisten Infektionen zurückgebracht wurden, sind mehrheitlich nicht die Top-Urlaubsdestinationen. 

Bitte nun nicht falsch verstehen: Jedem sei vergönnt, in der alten Heimat seine Familie zu besuchen. Der Autor selbst tut das regelmässig grenzüberschreitend. 

Man sollte aber darum die urlaubswillige Familie nicht kopfscheu machen, die ansonsten einen unbedenklichen Strandurlaub gemacht hätte. Genau das passiert aber. Man richtet einen grossen Scherbenhaufen an durch das undifferenzierte Kommunizieren zu COVID-19. Die Reisebranche liegt danieder. Und geholfen hat es wenig, wenn man sich die obigen Zahlen des Robert-Koch-Instituts anschaut. Denn die, die ihre Familien zuhause besuchen wollten, haben sich davon vermutlich weitgehend nicht abhalten lassen. Aber die, die nun Angst hatten, einen an sich unbedenklichen Urlaub zu machen, blieben oft zuhause. 

Was wir derzeit – neben vielen sehr sinnvollen Massnahmen – sehen, ist ein hilfloses Stochern im Nebel, um zu zeigen, was man alles tut. Einige „Löcher“ können aber nicht abschliessend gestopft werden (Haushalt, Arbeit). Und da muss man nicht auf Nebenkriegsschauplätze wie das Reisen ausweichen. 

Es muss aufhören, dass diese Mythen in die Welt gesetzt werden. Und auch diese Kindergartensprache eines Markus Söder ist auf Dauer nicht zielführend. Wir sind erwachsene Menschen. Und wir müssen den Realitäten in die Augen schauen dürfen. Das verlangt von uns als Bevölkerung natürlich umgekehrt auch, dass wir nicht kopfscheu werden. Entschlossen und verantwortungsvoll handeln ja. Aber nicht wie ein Reh im Lichtkegel erstarren,

Und nur, um dies zu verhindern, erwähne ich abschliessend die folgenden Zahlen: Aufgrund Corona sterben in 2020 in der Schweiz vermutlich 2’500-5000 Menschen und in Deutschland 12‘000-20‘000. Jedes einzelne Schicksal ist ein trauriges Schicksal. Aber wie sollte man diese Zahlen für sein eigenes „Angstbarometer“ ins Verhältnis setzen? Hier ein paar Zahlen, die kaum erwähnt werden:

- in der Schweiz sterben jedes Jahr um die 67‘000 Menschen, davon ca. 38%, also ca. 25‘000 Menschen vor dem 80sten Lebensjahr, was dann wohl spezielle Gründe hatte, weil nicht die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht wurde. Diesen 25'000 stehen die 2’500-5000 Menschen gegenüber, die an oder mit COVID-19 verstarben. 
- in Deutschland ist es noch extremer: Von den ca. 940‘000 Verstorbenen jährlich sterben um die 55 % im Alter unter 80, also circa 550’000 Menschen, die aus irgendeinem Grund nicht die durchschnittliche Lebenserwartung erleben durften. Und hier wiederum stehen diesen 550’000 vorzeitig Verstorbenen die vermutlich 12,000-20,000 an oder mit COVID-19 Verstorbenen gegenüber. 

Dies sind grobe Zahlen. Und auch wenn man über 80 ist, will man gern so lang leben wie möglich. Aber der Zweck hier ist, COVID-19 in Perspektive zu rücken Jeder Einzelfall ist tragisch und ein trauriger Einzelfall zu viel. Aber es ist dennoch wichtig zu realisieren, dass COVID-19 kein "Game Changer" ist, wenn wir das Mass an Infektionen für die Krankenhäuser verkraftbar halten. Die Krankenhäuser operativ zu halten, das muss wirklich ein zentrales Ziel sein. Wir wollen keine Schwerkranken in Turnhallen. 

Aber es gilt dennoch zugleich, differenziert vorzugehen. Wir müssen jetzt ganz allgemein die Kontakte reduzieren, in unseren Haushalten, am Arbeitsplatz, etc. Reisen per se zu verteufeln erzeugt vielleicht Applaus von der Galerie, ist aber nicht angebracht. Wer etwas anderes behauptet, möge dies herleiten und belegen, ansonsten möge er verreisen...

Donnerstag, 9. Juli 2020

Kopfscheu

Einige Monde bin ich nun doch schon auf dem Planeten. Was sich in den letzten Monaten zugetragen hat, ist aber eine neue Erfahrung für mich. Es hat mit COVID-19 zu tun, ja. Aber was mich wirklich beunruhigt, ist, wie Menschen auf eine solche Herausforderung reagieren. Es gibt vielleicht eine Handvoll Freunde/Bekannte, die bereit sind, einen gepflegten Diskurs zum Thema zu führen. Für die meisten ist das ein nicht zu diskutierendes Thema. Manche machen komplett zu, wollen einfach glauben, was sie glauben.

Ich gebe offen zu: Ich habe in den letzten Monaten meine Meinung zu COVID-19 immer wieder angepasst. Aber nur so kann es sein. Am Anfang fehlten viele Informationen. Nun ist das anders. Man kann erste Schlüsse ziehen. 


Suspekt sind mir die, die von Anfang an wussten, was sie zu denken hatten und sich daran seit Beginn der Pandemie nichts geändert hat. Da ist die Meinung gemacht und nichts wird diese ändern. Und das beschreibt leider die grosse Mehrheit in meinem Umfeld. Freunde, deren intellektuelles Potenzial ich sehr schätze, verkrampfen über COVID-19 total, sind völlig kopfscheu und wollen nur noch Angst haben. Ob die Angst begründet ist oder nicht, sei dahingestellt - aber sie wollen gar nicht weiter überlegen. Sie haben für sich entschieden: das hier ist für sie gefährlich. Also Angst. 


Die Headlines, die man dieser Tage in den Medien liest, helfen nicht gerade. E
s gibt offenbar so eine „Meinung des braven Bürgers“, die opportun ist und wie ein Kanon wiederholt wird. Natürlich ist das keine Verschwörung, da zieht keiner zentral die Strippen, das ist alles Quatsch. Das passiert implizit. Der brave Bürger hat Angst und sieht die Gefahr. Und passt etwas nicht in diesen Kanon, wird es diskreditiert. Kommt z.B. eine Studie raus, die die Gefahr von COVID-19 etwas relativiert, dann wird sie automatisch mit der Vokabel „umstritten“ belegt. Heinsberg-Studie der Universität Bonn (https://www.uni-bonn.de/neues/111-2020)? Umstritten. Stanford-Studie zu Santa Clara (https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.14.20062463v2)? Auch umstritten. Die Studien suggerieren, dass der Prozentsatz der Todesfälle aus COVID-19 irgendwo zwischen 0,1 und 0,4 % liegt - im Durchschnitt, inklusive der älteren Bevölkerung. Nimmt man die ungefähre Verteilung zwischen den Altersstufen, dann wäre das Risiko, mit COVID-19 infiziert abzuleben, so etwa zwischen 0,025 und 0,1 % für einen 50jährigen, ca. ein Viertel des Durchschnittsrisikos (siehe auch mein letzter Blogbeitrag "Leben mit COVID-19 (22, 25…)“, wo ich die Zahlen von New York bis Mitte April 2020 auswertete). Die Stanford-Studie kam zum Resultat, dass im untersuchten Gebiet 85mal so viele Menschen mit COVID-19 infiziert waren als offiziell durch Tests gefunden wurde. 85. Das würde alle Berechnungen über den Haufen werfen. 

Die Studien mögen nicht exakt sein. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn am Ende die Wahrheit genau dort läge, bei den 0,1 bis 0,4 %, mit Abweichungen nach oben dann, wenn ein Gesundheitssystem Defizite hat. Als man eine ähnliche repräsentative Studie in New York State machte, kam 0,5 % heraus. Es verdichten sich die Erkenntnisse, dass es irgendwo in dieser Gegend liegen muss. Nehmen wir das so in der Breite wahr?


Solche Prozentsätze passen aber nicht ins allgemeine Narrativ. Wie wenig wird darüber geschrieben? Und nochmals, ich sage nicht, dass dieses Narrativ abgestimmt ist von irgendwelchen sinistren Kräften - ganz und gar nicht. Aber als Journalist holt man sich vermutlich schnell eine blutige Nase, wenn man diesen Studien zu viel Aufmerksamkeit schenkt - und lässt es darum bleiben. Gelobt und reichlich zitiert wird man, wenn man über den COVID-19-Infizierten schreibt, der roten Ausschlag an den Zehen bekommt - selbst wenn das vielleicht ein Fall unter 100’000den ist. Der rote Zeh ging um die Welt. Anekdoten dieser Art gehen halt immer, völlig jenseits jeder statistischen Relevanz. Emotionalisiert… und macht kopfscheu. 


Es ist unsäglich. Ich habe mittlerweile auch Angst. Aber meine Angst ist die vor der Situation, dass wir mal eine wirklich dramatische Herausforderung als Gesellschaft zu meistern haben. Wenn wir jetzt schon, bei einer Krankheit mit einer durchschnittlichen Todesrate von 0,1 - 0,4%, so austicken, ja was tun wir erst, wenn es mal einen Virus gibt, der (1) so hinterlistig ansteckend ist wie COVID-19 (man kann jemanden infizieren, ohne selbst zu merken, das man es hat), aber auch (2) so tödlich wie Ebola (je nach Stamm sterben zwischen 30 und 90% der Infizierten)? Ich bin ein absoluter Gegner von Waffen in privaten Händen, aber wenn ich mir anschaue, wie aufgewühlt unsere Gesellschaft jetzt schon ist, was erst, wenn es so richtig dramatisch wird? Bewahren wir dann die Ruhe und versuchen mit besten Kräften, das Problem zu lösen, oder fallen wir übereinander her? Die Reaktion zu COVID-19 - einem Virus, der es in sich hat und ernst genommen werden muss, keine Frage, am Ende aber die Welt nicht verändern wird - lässt mich hier sorgenvoll sein. 


Und ja, die Medien machen dabei keine gute Figur. Ich bin ein grosser Anhänger derselben. Ich glaube, dass NZZ, Tagi, Zeit, FAZ, TAZ, NYT, CNN etc. alle einen insgesamt grossartigen und wichtigen Job machen. Aber manchmal setzt es aus. Und das ist nicht abgesprochen, sondern vermutlich systemimmanent. Man kann gewisse Dinge dann einfach nicht schreiben, weil die gesellschaftliche Sanktion zu gross wäre. Und in einer Art vorauseilendem Gehorsam wird es dann auch nicht gemacht. Oder, man zerpflückt unseriös: Heinsberg-Studie auf dem Tisch. Nur 0,37 % Todesrate? Das passt nicht. Schnell mal jemanden finden, der Zweifel sät. Oder n-tv zur Studie von Stanford am 1.5.2020 unter dem Titel "Umstrittene Stanford-Studie - Coronavirus nicht gefährlicher als Grippe?“ ( https://www.n-tv.de/wissen/Coronavirus-nicht-gefaehrlicher-als-Grippe-article21752352.html  ). Dies ist immerhin die Stanford University. Aber man muss es zerreden. Das tut man aber nicht, indem man andere, konkurrenzierende Daten liefert, oder eine Gegenthese i.S.v. „Wissenschaftler X kam bei seinen Untersuchungen zum Schluss, die Todesrate muss eher bei Y liegen“. Nein, man bietet nichts an, sondern sät nur besagte Zweifel. Und dafür findet sich in der Community (der sich gegenseitig Erfolge und Ruhm neidenden) Wissenschaftler natürlich schnell jemand, der zur Stelle ist. 

Nochmals: Ich sage nicht, dass die Universitäten in Bonn und Stanford Recht haben. Wie könnte ich? Aber warum sind diese Zahlen umstritten, wenn zugleich nichts anderes angeboten wird oder wenn, dann die wildesten Werte (über 10% Tote in Spanien - was 100% falsch ist!), weil man fälschlicherweise nur die getesteten Infizierten ins Verhältnis zu der Anzahl der Toten setzt, nicht aber die Gesamtheit der Infizierten zu ermitteln versucht. Das ist sträflich. 


Es gibt ein ganz fundamentales Problem, das dramatische Auswirkungen auf unsere Meinungsbildung hat: Es wird nicht ordentlich informiert. Da gab’s zu Beginn der Pandemie schon mal diese Irritation mit den Masken, von denen es zunächst hiess, die bringen nichts. Jetzt sind sie an vielen Orten Pflicht. Aber das viel grössere Problem ist: Wir müssen doch dramatische Entscheidungen treffen - bzw. sie werden tagtäglich getroffen. Wir beschliessen Lockdowns, schränken Bürgerrechte ein, zerstören Unternehmen, schaden der Wirtschaft insgesamt und damit auch uns allen. Da muss man doch schauen, ob das gerechtfertigt ist. Ist es da nicht eines Jeden verdammte Pflicht, sich einmal nüchtern die relevanten Daten anzuschauen?


Nun mag der kritische Leser sagen, dass das nicht einfach ist. Was sind denn die relevanten Daten? Aber das stimmt nicht. Es ist sehr einfach! Wir leben mit verschiedensten Risiken, tagtäglich. Zumeist machen wir uns keine konkreten Gedanken dazu. Aber wenn, dann misst man das Risiko oft in „Cases per 100’000“. Also wie hoch ist z.B. mein Risiko, dass ich im Haushalt oder Strassenverkehr umkomme? Und dann schaut man nach, und sieht "pro 100’000 Einwohner kommen so und so viel Menschen um“. Man kann dann recht sachlich entscheiden, ob einem das Risiko zu hoch ist oder nicht. Und genau so müssen wir auch bei COVID-19 vorgehen.


Ein Phänomen kommt nun neu dazu: Selbst wenn die Zahl der getesteten Infizierten gleich bleibt oder hoch geht, die Zahl der Todesfälle geht runter - und auch die der Erkrankten. Wäre es nicht wichtig, das zu verstehen? Vielleicht entwickelt sich COVID-19 ja immer mehr zu einem Risiko, mit dem wir als Gesellschaft gut leben können, selbst wenn wir das „Durchinfizieren“ nicht verhindern könnten. Sollten wir das nicht prüfen, bei all dem, was wir zu entscheiden haben? Man schaue sich dazu diese Charts für Schweden an: 


Quelle: https://experience.arcgis.com/experience/09f821667ce64bf7be6f9f87457ed9aa

Das ist doch auffällig. Aber es wird nicht besprochen. Interessiert sich denn kein Journalist dafür, warum denn bitte die Zahl der Erkrankten in Intensivstationen und der Toten derart extrem zurückgeht, wenn die Zahl der Infektionen doch eher steigt?


Mir kommen vier mögliche Gründe in den Sinn:


1. Wir wissen, COVID-19 besser zu heilen. Glaube ich nicht, dafür ist die Lernkurve noch zu kurz. Wenn, dann ist das ein kleiner Faktor.


2. Wir schützen die ältere Bevölkerung deutlich besser, für die COVID-19 unbestritten ein grosses Risiko ist. Bravo, wenn’s so ist. Kann gut sein, dass das der Grund für die positive Entwicklung trotz hoher Infektionszahlen ist. Das ist dann aber auch eine gute Nachricht. Wenn man die Älteren gut schützt, ist es gleich deutlich weniger dramatisch.


3. Wir haben zu Beginn der Pandemie nur einen Bruchteil der Infizierten erfasst. In Tat und Wahrheit waren es viel mehr. Stanford suggerierte das 85fache. Das klingt mir jetzt nach arg viel Dunkelziffer. Aber wenn es nur 10-20mal so viele sind…COVID-19 verliert seine Gefährlichkeit dann, wenn man die Risiken ausrechnet. 

4. (aufgrund des Inputs meiner schlauen Nichte neu addiert): Ggf. mutiert COVID-19 bereits zum Besseren für seine Wirte. Viren wollen sich vermehren. Und dazu ist ein fitter Wirt besser als ein dahinsiechender. Darum setzen sich auf Dauer in der Regel die für den Menschen harmloseren Stämme durch. Es gibt wohl jahrhundertealte Coronaviren, von denen wir heute noch einen Schnupfen erhalten. Dies wäre nicht das erste Mal, dass dies passiert. 

Ich denke, 2. ist der bessere Erklärungsansatz. Wir die ältere Bevölkerung betroffen ist, wie sie geschützt wird, ist matchentscheidend. Aber es hat sicher auch Elemente von 1. und 3. Wir setzen neue Präparate ein, wir testen mittlerweile besser. Wiederum 4. wäre fast zu schön um wahr zu sein. Ein Virus mutiert eigentlich nicht so schnell zum Besseren. 

Aber warum machen sich darüber öffentlich nicht schlauere Leute als ich Gedanken? COVID-19 ist weiter unter uns. Ein Impfstoff kann bald verfügbar sein oder aber auch nicht. In letzterem Fall würden wir über kurz oder lang durchinfiziert. Sollten wir nicht alles daran setzen, COVID-19 für diesen Fall so gut wie möglich zu verstehen? 

Ich war zu Beginn beeindruckt von der Entschlossenheit der Politiker. Eine neue Bedrohung, unzureichende Informationen - es wurde entschieden gehandelt. Das war gut. Aber jetzt haben wir Erfahrungen gesammelt, wir haben deutlich mehr Daten. Und die suggerieren interessante Entwicklungen, die sehr, sehr wichtig für unsere Entscheidungen sind. 


Und kaum jemand schreibt darüber. Lieber den 100sten Artikel über jemanden, der eine extreme Nebenwirkung von COVID-19 hatte. Das führt doch zu nichts. Bzw. doch: es macht die Menschen … kopfscheu. Und das ist nicht gut. Gar nicht gut. In solchen Zeiten müssen wir - noch mehr als sonst - besonnen handeln. Und wenn das bedeutet, das Narrativ etwas anzupassen, dann muss man die Kraft und den Mut dazu haben.


Ich wäre nicht überrascht, wenn es einmal heisst: Nach anfänglich dramatischen Entwicklungen bekamen wir COVID-19 recht gut in den Griff. Klar, es war ein spezieller Virus. Ein Wirt mochte keine Symptome erkennen, aber ansteckend sein. Aber wir beachteten Hygienemassnahmen, schützten besonders die ältere Bevölkerung und sahen ab von Grossveranstaltungen in Innenräumen. Sahen wir einen lokalen Ausbruch, handelten wir dort gezielt. Dort, wo man sich an diese wenigen, aber wichtigen Spielregeln hielt, gingen die Anzahl der Erkrankten und Todesfälle recht bald deutlich zurück. Wir müssen weiter wachsam sein. Früherkennung ist von entscheidender Bedeutung. Aber wenn es sich so weiterentwickelt, wird COVID-19 einfach eine weitere Herausforderung von vielen sein. 


Ich mag falsch liegen, zu sehr an unsere Lernwilligkeit und Handlungsfähigkeit glauben. Und klar, man darf es natürlich nicht einfach fahrlässig laufen lassen wie bisher in den USA. Dort ist der persönliche Schutz gegen COVID-19 dazu leider zum politischen Statement geworden. Ein Republikaner, der Maske trägt, ist in seinen Reihen schnell mal suspekt. Das ist natürlich schlimm. Hätte nie so weit kommen dürfen. Man muss die Hygienemassnahmen beachten, sich schützen. 


Aber kann man nicht zugleich nüchtern versuchen, die Risiken besser zu verstehen statt Panik zu verbreiten? Man sucht sich die Finger wund im Internet bzgl. eines Beitrags zum Phänomen, das ich oben für Schweden aufzeige. Dabei sind die Entwicklungen über den Sommer grad dramatisch (gut). Die Anzahl der schwer Erkrankten und Toten, die COVID-19 hatten, geht deutlich zurück, über das Infektionsgeschehen hinaus, so erscheint es. Falls diese Beobachtung richtig ist, warum ist das so? Grosses Schweigen im Walde...

Wir müssen aber auch bei uns selbst beginnen, als private Individuen. Wir müssen lernen, in solchen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und nach bestem Vermögen zu analysieren, was Sache ich, nicht unsere Emotionen überhand nehmen zu lassen. Emotionen sind gut und wichtig. Aber nicht in solchen Krisen. Keiner will in einem Flugzeug sitzen, das notlanden muss - und der Pilot weint nur. Wir sind hier alle Piloten. Wir geben den Politikern vor, was sie zu tun und zu lassen haben. Und wenn deren Handeln nicht ein Spiegelbild unserer Kopflosigkeit sein soll, müssen wir selbigen Kopf kühl bewahren und nach bestem Vermögen und möglichst sachlich entscheiden. Nur dann kommt es in Krisen gut raus.

Sonntag, 12. April 2020

Leben mit COVID-19 (22, 25...)

aktualisiert am 26.4.2020

Prof. Klaus Püschel, Rechtsmediziner in Hamburg, sitzt bei Markus Lanz in der Talkshow und behauptet doch glatt, wir werden 2020 in den Statistiken keine besondere Auffälligkeit bei der Anzahl der jährlichen Todesfälle sehen (siehe: Markus Lanz vom 9.4.2020 ab 20min30sek). „Es sterben in diesem Jahr in Deutschland nicht mehr Menschen als in den Jahren zuvor“, sagt er. Wie kann das sein? 

Nun, er ist kein Unbeteiligter. In Hamburg werden COVID-19-Todesfälle obduziert. Prof. Püschel nimmt diese Untersuchungen vor. Er weiss noch von einer anderen Beobachtung zu berichten: COVID-19 war in keinem Fall der einzige Grund für das Ableben einer Person. Er sah ausschliesslich Patienten mit „ernsthaften Vorerkrankungen“ auf seinem Tisch.

Szenenwechsel. Schweden. Restaurants, Läden, Arbeitsstätten und Schulen sind weiter offen. Es wird an die Vernunft eines jeden Einzelnen appelliert und dabei die bekannten Hygienemassnahmen empfohlen. Kein radikaler Lockdown, keine kategorische Stay-at-Home-Order. Empfehlungen. Man würde denken, dass die Zahl der COVID-19-Toten in Schweden durch die Decke schiessen. Das tun sie aber bisher nicht. Die Kurve scheint sich überall, wo es die erste Welle gab, abzuflachen - auch in Schweden. Ein signifikanter Unterschied ist nicht zu sehen.

Was bedeutet das? Hätten die Massnahmen der letzten Wochen, die kleine und grosse Unternehmen an ihre Grenzen und vermutlich auch einige dahinter brachten, die von uns auch privat so viel abverlangten, hätten diese Massnahmen nicht verhängt werden sollen? Wer das behauptet, wäre grob unfair. Auf uns rollte einen Virus-Tsunami zu und wir konnten ihn nicht einschätzen. Wer hätte da nicht erstmal eine Vollbremsung hingelegt, wenn dadurch Dramen wie das in der völlig auf dem falschen Fuss erwischten Lombardei hätten vermieden werden können? Nein, unsere Politiker haben eine gute, ja sogar grossartige Figur gemacht. Das war eine Extremsituation und sie wurde äusserst professionell gemeistert. Wir wussten nicht, was da auf uns zukommt.

Aber jetzt ist die Zeit gekommen zu reflektieren. Die eben gleichen Politiker könnten dabei versucht sein, auch Massnahmen nachträglich zu rechtfertigen, die so vielleicht nicht flächendeckend notwendig gewesen wären. Politiker sind Überlebenskünstler und müssen sich immer Gedanken machen, was ihre Wähler akzeptieren, sonst sind sie ganz schnell Geschichte. Eine massive Welle von Todesfällen zu produzieren, aus Leichtfertigkeit, das wäre das Ende der Karriere (und zu recht). Die Wirtschaft in Grund und Boden zu fahren ist auch schlimm, aber man kann es rechtfertigen mit einem höheren Ziel, dem Retten von Menschenleben. Natürlich ist der Druck der Wirtschaft auch enorm. Aber Bilder im Fernsehen von überfüllten Krankenhäusern, mit Menschen, die auf den Gängen ohne Beatmungsgeräte unnötig leiden, ja sterben, das ist ungleich schlimmer. Und das ist es auch. Aber weil dem so ist, könnten Politiker versucht sein, auch Massnahmen zu rechtfertigen, die, wie wir jetzt ggf. erkennen müssen, wenig bringen. Wir müssen die Analyse darum mit offenen und auch etwas wachsamen Augen angehen.

Warum ist es so, dass sich - bei durchaus unterschiedlichen Vorgehensweisen in der Schweiz und Deutschland, in Schweden und Grossbritannien, oder auch in Italien, Spanien und den USA - die Zahl der Neuinfektionen eigentlich überall nunmehr reduziert? Wie gravierend diese Länder (bzw. einzelne Regionen in diesen Ländern) zunächst betroffen waren, das ist unterschiedlich und hat vermutlich schlicht mit Glück oder Pech zu tun. In Köln feierten 100'000de Karneval noch im Februar. Daraus entstand kein Hotspot wie in Bergamo. Und im kleinen Heinsberg reicht eine kleine Karnevalsparty und man hat Ausbreitungszahlen wie in den heftigst betroffenen Regionen. Es war einfach Zufall, ob es eine Region erwischte oder nicht.

Was aber bedeutend ist: Die Kurven flachten bald überall ab, obwohl die ergriffenen Massnahmen sehr unterschiedlich waren. In der Schweiz dürfen bis zu fünf Personen zusammenkommen, in Deutschland zwei, in manchen Ländern darf man das Haus nicht mehr verlassen, in Schweden wiederum entscheidet jeder für sich. Und dennoch der gleiche positive Trend.

Offensichtlich gibt es etwas, was all diesen Ländern gemeinsam ist und uns hilft, die Herausforderung nun doch zunehmend souverän zu meistern. Die Antwort liegt wohl bei uns selbst. Die ungebremste COVID-19-Welle flösste uns Respekt ein. Wir akzeptieren die Gefahr und haben Verantwortung übernommen - aus Bürgersinn, Solidarität oder purer Angst. In manchen Regionen klappte dies besser als in anderen. Aber insgesamt ist überall eine Verhaltensänderung festzustellen. Wir waschen unsere Hände bewusster und intensiver, wir halten etwas mehr Abstand voneinander, grüssen winkend, wir husten in die Armbeuge und desinfizieren.

Offenbar sind es diese Hygieneregeln, die die Ausbreitung verlangsamen. Denn genau diese sind überall gleich. Massnahmen wie Lockdown und Stay-at-home waren es dagegen vermutlich nicht. Im Rückblick müssen wir erkennen, dass diese Schritte voreilig waren. Der positive Effekt stellte sich auch ohne Lockdown ein.

Wenn nun diese Hygieneregeln entscheidend sind, dann ist auch plausibel, dass man unter Einhaltung dieser Regeln - wie in Schweden - Geschäfte und Restaurants durchaus offenhalten, mit dem Bus zur Arbeit fahren oder Freunde treffen kann - und die Dinge daraufhin keine fundamental andere Entwicklung nehmen werden wie an Orten, an denen drastischere Massnahmen flächendeckend bestehen - wenn man denn die Hygieneregeln beachtet.

Wir werden wohl im Rückblick feststellen, dass Manches sehr effektiv, manches aber auch weniger notwendig war. Wer einem Politiker dann allerdings Vorwürfe macht, der wäre grob unfair. Die letzten Wochen waren eine extreme Situation, die extreme Massnahmen erforderte. Nun aber sollten wir analysieren und lernen. Wir müssen sogar. Sonst implodiert unsere wirtschaftliche Existenz. Auch darum ist Schweden der weisere Weg. So, wie man es dort macht, hält man auch 1-2 Jahre durch.

Denn COVID-19 wird wahrscheinlich noch eine rechte Weile bei uns bleiben. Und dann wird es ggf. COVID-21, 25... geben - wer weiss... Wir werden einen anderen Hygienestandard pflegen müssen und das vermutlich für die nächsten Jahre (und warum nicht für immer?). Aber wir werden - und wie ich glaube, schon wieder in wenigen Wochen - ein weitestgehend normales Leben leben. Was sollte auch die Alternative sein?

Wir werden mit COVID-19 leben lernen. Uns bleibt ohnehin nichts anderes übrig, falls nicht ein Wunder kurzfristig eine Therapie hervorbringt. Herdenimmunität anstreben als Lösung des Problems ist jedenfalls keine Option. Die gibt es in einem spürbaren Ausmass vielleicht an den Orten, wo es ganz schlimm war -  in Heinsberg, in Bergamo, in New York. Aber über grössere Regionen, ja Länder hinweg wurden die weitaus meisten von uns bisher nicht infiziert und sind damit auch nicht immun. Mit den jetzt erfolgreich verlangsamten Ansteckungsraten würde es sehr lang dauern, bis eine ausreichende Zahl (man spricht von 60-70 % der Bevölkerung) erreicht wäre und die "Herde" damit immun. Und dann hält diese Immunität ggf. auch nicht ewig an. Dazu würden wir beim Anstreben einer Herdenimmunität die, die sehr alt sind oder eine Vorerkrankung haben, dem Virus ausliefern. Das ist kein gangbarer Weg. Wir müssen COVID-19 als Realität akzeptieren und dabei die Infektionsraten niedrig halten.

COVID-19 ist keine Katastrophe. Ein Virus, der so ansteckend wäre wie ein Schnupfen, aber die Todesrate von Ebola hätte (an Ebola versterben zwischen 30-90%!) - das wäre die blanke Katastrophe. Solle uns dies einmal blühen, sind wir hoffentlich besser vorbereitet. Und so zynisch es klingt, wie müssen vor dem Hintergrund der Gefahr eines solchen Killervirus fast dankbar sein, dass wir gerade die Erfahrung mit COVID-19 machen und hoffentlich daraus lernen (ausreichend Ventilatoren, Masken, etc. auf Lager - jederzeit!).

COVID-19 hätte sich nicht ungebremst ausbreiten dürfen. Aber es zeigt sich auch: COVID-19 ist vor allem ein Risiko für einschlägig Vorerkrankte und Alte. Sie gilt es unbedingt zu schützen. Aber es gibt keinen Grund für Panik unter nicht Vorerkrankten im jungen bis mittleren Alter, insoweit wir den gegenwärtigen Trend weiter beibehalten können. Ein Augenöffner sind hier die Zahlen vom Hotspot New York City (siehe Tabelle). Das Risiko, in New York City bis Mitte April gelebt zu haben, in der dramatischen Phase der Pandemie, war vergleichbar mit dem Risiko eines fatalen Autounfalls und für eine Person ohne Vorerkrankung unter 65 sogar deutlich geringer. Dies zu realisieren ist eben auch wichtig, damit wir möglichst sachlich die richtigen Entscheidungen treffen. Wir müssen handeln, ja, aber wir sollten nicht kopfscheu werden. 




Natürlich wird es immer wieder Meldungen von Ansteckungen geben. Es wird, insbesondere im Herbst/Winter, fast sicher neue Ausbrüche geben. Und dann sind auch entschiedene Massnahmen notwendig. Aber das ist das Leben und das war es vor COVID-19 auch schon. Wir akzeptieren de facto über 600‚000 Todesopfer pro Jahr im Strassenverkehr weltweit. Wir werden so auch mit einer gewissen Anzahl von Todesopfern infolge von COVID-19 leben. Es dürfen einfach nicht zu viele sein, wir dürfen Menschenleben nicht fahrlässig riskieren. Jeder von uns hat es in der Hand, das Risiko durch Hygienemassnahmen zu reduzieren.

Und wenn es einen dann doch erwischt? Ich denke, wir sollten vor COVID-19 nicht eine ungewöhnliche Angst haben, also nicht mehr als vor anderen Gefahren des täglichen Lebens. Im Moment sind viele von uns kopfscheu durch die enorme Präsenz des Themas in den Medien - die völlig verständlich ist, aber eben, man stelle sich mal vor, Strassenverkehrsopfer würden mit Fernsehkamera mit ins Krankenhaus begleitet. Man würde nur noch zittrig am Lenkrad sitzen. Und all die sonstigen schlimmen Krankheiten - wir wollen die Bilder dazu nicht immer vor Augen haben. Bei COVID-19 muten wir uns aber genau das zu. Das hilft nicht immer bei einer nüchternen, sinnvollen Entscheidungsfindung.

Auf mein völliges Unverständnis treffen hier auch die unsäglichen Tabellen, die man überall sieht, die (1) die Zahl der bekannten Infizierten mit (2) der Zahl der Verstorbenen ins Verhältnis setzen. Demzufolge würden dann in Spanien zum Beispiel über 10 % der Infizierten sterben. Ein fertiger Quatsch. Wir müssen die Anzahl aller Infizierten kennen, was nur durch repräsentative Studien möglich ist, wie sie z.B. in Heinsberg oder New York erstellt wurden. Und dann zeigt sich sehr schnell, dass es nicht über 10% sind, sondern eher 0,5% - und dies über alle Altersklassen hinweg und inkl. einschlägig Vorerkrankter. Meinen Eltern, beide in den Achtzigern, empfehle ich, besondere Vorsicht walten zu lassen. Menschen jüngeren bis mittleren Alters ohne Vorerkrankung tun dies. um ggf. andere nicht anzustecken, also die Ausbreitung zu fördern. Aber ihr eigenes Risiko ist deutlich geringer. Ich meine, das sollten wir deutlicher sagen, um zu den richtigen Entscheidungen zu kommen.

Ich persönlich glaube, dass wir bald alle so mit COVID-19 leben werden, wie es die Schweden derzeit tun. Nur so können wir es auch 1-2 Jahre durchhalten.

Ich selbst sehe mich, sobald es erlaubt ist, wieder im Restaurant sitzen. Der Sommer macht die Entscheidung leicht, denn draussen mit etwas Abstand,  das sollte unbedenklich sein. Aber ich setze mich dann auch wieder rein ins Restaurant - nicht in ein enges Bistro, wo man Schulter an Schulter sitzt, aber gern mit etwas Abstand zwischen den Tischen. 

Stickige, vollgepackte Bars werde ich wohl noch eine rechte Weile nicht aufsuchen. Auch ein Rockkonzert, das sehe ich nicht. Ein Fussballspiel im Stadion anschauen? Schon eher, weil draussen. Aber am liebsten, wenn 100% Maskenpflicht besteht. Das gleiche für Busse, Züge und Flugzeuge - wenn alle Passagiere geeignete Masken tragen, bin ich dabei. „Alle“ ist dabei für mich entscheidend. Denn die Masken schützen am meisten, wenn die, die infizieren könnten, sie auch tragen. Und die wären bei 100 % Maskenpflicht dabei.

Das Leben wird sehr bald schon wieder weitestgehend normal anmuten. Wir werden lernen, souverän mit COVID-19 zu leben, mit ein paar zusätzlichen Hygieneregeln, die ohnehin immer schon Sinn machten. Machbar.

Und dann sollte es nur noch um Eines gehen: Lernen aus dieser Erfahrung und vorbereitet sein. Denn alle 3 Jahre können wir so nicht verfahren. Klar, man kann sich fragen, warum wir nicht schon dieses Mal vorbereitet waren. Dass es eine Pandemie geben könnte, wurde immer wieder besprochen, teilweise testweise durchgespielt. Aber vermutlich ist die harte Realität, dass es erst einmal passieren musste, bis der Groschen wirklich fällt. Ich bin sicher, er ist gefallen. 

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