Sonntag, 3. Januar 2021

Transparenz im Covid-19-Informationsdschungel

Es kursiert so viel Schrott im Internet über Covid-19 – verquere Flachdenker, die man mal mit in eine Intensivstation zu den um Atem ringenden Patienten nehmen sollte, bis wiederum am anderen Ende des Spektrums Schreckensverbreiter, die mit der Angst der Bevölkerung spielen.

Es haut mich immer wieder um, wie wichtig Covid-19 uns allen ist, wie grottenschlecht informiert aber viele von uns sind. Mir kommt es sogar oft so vor, als hätten manche geradezu Angst vor Daten und Fakten, die ihr Weltbild (einmal gemacht, fest in Stein gemeisselt) erschüttern könnten.

Dabei liegen reichlich Informationen vor. Natürlich werden wir im Rückblick schlauer sein, das ein oder andere auch korrigieren müssen. Aber der Satz „wir wissen noch viel zu wenig“ ist fahrlässig, manchmal auch bewusste Irreführung, um die Angst am Köcheln zu halten. Wir wissen bereits sehr viel.

Ein Versuch, etwas mehr Transparenz in den Covid-19-Informationsdschungel zu bekommen:

Klar ist: Covid-19 ist aussergewöhnlich gefährlich


Wer daran zweifelt, will einfach nicht sehen. Die Krankenhäuser ächzen, die Übersterblichkeit in der zweiten Welle ist enorm. Daran lassen die aktuellen offiziellen Zahlen keinen Zweifel. Das Virus findet seinen Weg zu den Wirten - und dies, wie alle Viren, wenn man sie lässt, exponentiell.

Richtig ist aber auch: Aussergewöhnlich gefährlich für über 70-jährige


Die im September 2020 veröffentlichte Metastudie der WHO ermittelt eine Letalität (Median) von 0.27 %. Für die unter 70-jährigen sind es aber nur 0.05 %. 

Schaut man in die Statistik der Todesfälle in der Schweiz oder in Deutschland, sieht das Bild je nach Altersgruppe dramatisch unterschiedlich aus. Wer unter 30 ist, muss sich bezüglich Ableben durch Covid-19 kaum Sorgen machen. Und auch eine schwere Erkrankung ist eher selten, die unter 30jährigen machen nur 3% der hospitalisierten Fälle aus. Die Zahlen zwischen 30 und 70 sind naturgemäss höher, aber noch nichts, was uns aus der Bahn werfen würde.

Wenn das Risiko-Profil für alle so wäre wie für die unter 70-jährigen, wäre Covid-19 ein paar Schlagzeilen im Frühjahr wert gewesen, aber keine breite politische Erwägung und sicher keine mit Lockdown.

Ist es aber nicht. Wir müssen schauen, wie wir die, die besonders im Risiko sind, schützen.

Die Impfung ist eine Altersfrage


Um das klar vorab zu sagen: ich bin so ziemlich gegen alles geimpft. Impfungen haben die Welt zu einem sichereren Ort werden lassen. Aber Impfungen werden in der Regel über Jahre erprobt, dabei auch etwaige langfristige Nebenwirkungen erforscht.

Manchmal wird eine Impfung aber in der Hast entwickelt, wie seinerzeit bei der Schweinegrippe. Die Folge: In Schweden, wo dagegen geimpft wurde, gab es im Nachgang zur Schweinegrippe-Impfung ca. 500 Fälle von Narkolepsie, einer Art Schlafkrankheit, vornehmlich ausgebrochen unter jungen Leuten.

Ich erwähne das nicht, um von einer Covid-19-Impfung abzuraten – keinesfalls! Aber wir sollten uns in mehr wissenschaftlicher Bescheidenheit üben. Es gibt bei den in wenigen Monaten entwickelten Impfungen zu Covid-19 ein prinzipielles Restrisiko, da wir die langfristigen Folgen noch nicht verstehen können. „Langfrist“  braucht nun mal eine lange Frist. Die Zeit haben wir aber nicht. Und so bleibt eine ganz simple Risikoabwägung – Risiko Covid-19 gegen Risiko Impfung.

Wer über 70 ist, hat meines Erachtens keine Wahl. Die Zahlen geben es klar her: Impfen jetzt ist das einzig Richtige. Das Risiko aus Covid-19 ist zu gross. 

Aber sollte man einer 20jährigen raten, sich impfen zu lassen? Die vorliegenden Zahlen suggerieren das nicht so eindeutig.

Im Moment ist nicht einmal gesagt, dass die Impfung auch verhindert, dass man andere ansteckt. Womöglich schützt sie nur den Geimpften. Aber selbst wenn die Ansteckung auch unterbunden würde, für wen ist man als Ungeimpfter eine Gefahr? Doch nur für Menschen, die sich aus irgendeinem Grund gegen die Impfung entschieden haben. Warum wird also ein moralischer Imperativ "pro Impfung" aufgebaut? Wir könnten doch miteinander koexistieren, die Geimpften und Ungeimpften. Die Geimpften hätten – da ja geimpft – von den Ungeimpften nichts zu befürchten.

Niemand sollte sich darum gezwungen fühlen zur Impfung. Das gebietet auch einfach die wissenschaftliche Bescheidenheit. Wenn dann doch das Unwahrscheinliche eintritt und es eine unerwünschte langfristige Nebenwirkung gibt, wäre es doch dramatisch, wenn wir Heerscharen junger Menschen völlig unnötig zur Impfung gedrängt hätten. Es muss ein freiwilliger Entscheid bleiben.

Die Lage sollte sich deutlich bessern, wenn die über 70jährigen geimpft sind. 

Nehmen wir mal positiv an, die über 70jährigen sind bald geimpft (soweit sie dies wollen, und sie sollten es wollen). Wir werden weiterhin Erkrankte und auch Todesfälle verzeichnen, aber vermutlich vergleichbar mit anderen Risiken des Lebens, denen wir uns aussetzen. Und wir werden nicht mehr an Lockdowns, etc. denken. 

Es dauert aber noch eine Weile, bis die besonders Gefährdeten geimpft sind. Und da muss man leider feststellen:

Wir leben derzeit mit einer gigantischen Covid-19-Dunkelziffer


Da draussen in der Schweiz und in Deutschland laufen wahrscheinlich 5-10 mal so viele Infizierte herum, wie offiziell gemeldet werden. Das ergibt sich aus den 0,27% der WHO-Metastudie, wir könnten sonst nicht so viel Tote haben. Und selbst wenn dieser Wert im Nachhinein etwas zu korrigieren wäre, das Bild wäre nicht dramatisch anders. 

Das ist eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Gut ist sie, weil dann offenbar eine grosse Menge von Menschen symptomfrei sind und die Erkrankung nicht bemerken – weit mehr, als wir derzeit denken. Eine schlechte Nachricht ist es aber natürlich auch, weil sich das Virus so unentdeckt weiterverbreiten kann. 

Wir müssen aber klar erkennen: Zu glauben, man könne das Virus in den Griff bekommen, wenn man die Inzidenz unter 50, 25 oder 10 von 100,000 bekommt, ist aberwitzig. Wenn 8 von 10 Personen gar nicht merken, dass sie COVID-19 haben, dann ist die Rückverfolgbarkeit ein schwieriges Ziel. Diese 8 melden sich ja nirgendwo und nichts wird rückverfolgt. Das einzig mögliche Ziel ist Null. Sonst sucht sich (und findet) das Virus seinen Weg.

Wie kommt man da hin?

(Der ungerechte Ruf nach einer) Langzeitstrategie


Natürlich braucht es eine Langzeitstrategie. Logisch. Aber die, die ihr Fehlen derzeit bemängeln, sind grob unfair. Waren wir wirklich bereit für das, was funktioniert hätte?

Best Practice unter den freiheitlichen Demokratien sind wohl Neuseeland und Australien. Beide Länder haben Covid-19 derzeit im Griff. Dort wird aber nicht von 50 pro 100'000 gesprochen. Würde man nie akzeptieren. In Neuseeland und Australien wird gehandelt, wenn nur ein einziger Infizierter entdeckt wird. 

Vermutlich ist das die einzig zielführende Strategie. Null Toleranz, von Anfang an.

Ich bin mir sicher, das wir das beim nächsten Mal so machen. Ob es uns gelingt (inwieweit z.B. die Insellage von Neuseeland und Australien es leichter macht = deren Fehlen für uns schwerer), wird zu sehen sein. Aber klar ist: das, was wir derzeit tun, zermürbt und führt nicht mal wirklich zu einer deutlichen Besserung. 

Mit der Erfahrung von Covid-19 sind wir vermutlich beim nächsten Mal bereit dazu, drastische Massnahmen gleich zu Beginn zu akzeptieren. Aber wir müssen fair bleiben. Wer hätte das im Februar 2020 akzeptiert? Ganze Regionen dichtmachen, inklusive Büros, Schulen, Kitas, etc. – das wäre doch niemals akzeptiert worden. Wir sind jetzt schlauer. 

Jetzt hilft nur noch ein Lockdown hard - oder wir akzeptieren die Entwicklung


Die Impfkampagne wird ihre Zeit brauchen. Will man nicht, dass in den kommenden, vermutlich 2-3 Monaten noch viele weitere, vor allem ältere Menschen schwer erkranken und auch sterben, dann müsste man in ein komplett anderes Fahrwasser. Da kann man nicht einfach die gegenwärtigen Massnahmen verlängern. Wenn die Zahlen massiv runter sollen, dann braucht es einen fokussierten harten Lockdown, der alles umfasst, was nicht absolut essenziell ist. Alles andere ist Illusion. Wird nicht reichen. 

Immerhin, die verlängerten Weihnachtsferien könnten eine Verschnaufpause bringen. Manche sahen Weihnachten ja als Risiko. Ich glaube aber, das Gegenteil ist der Fall. Den Verwandtschaftsbesuchen steht ein viel grösser, positiver Effekt gegenüber, der der geschlossenen Kitas und Schulen, der Abwesenheiten vom Büro, beides verbunden mit viel weniger Benutzung vom ÖV. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Zahlen nach Weihnachten temporär sinken, nur um dann aber, sobald das Leben wieder losgeht, wieder Fahrt aufzunehmen.

Man kann natürlich auch zum Schluss kommen, dass eine Strategie, wie Neuseeland oder Australien sie fahren, hierzulande nicht funktioniert. Wir sind nun mal keine Insel, eingebettet in ein Europa mit (allein schon für den Warenverkehr) zwingend durchlässigen Grenzen. Ich glaube dennoch, wir müssen einen Game Plan für den Lockdown hard zumindest fix und fertig in der Schublade haben. Denn das nächste Virus könnte deutlich gefährlicher sein. So ansteckend wie Covid-19 und so tödlich wie Ebola (30-90%, je nach Stamm) - wir haben  unser Handeln besser gut vorbereitet. Mag zynisch klingen, aber in dem Sinne wäre Covid-19 zumindest ein heilsamer Augenöffer gewesen. Wir haben da nachzubessern, für den Fall der Fälle. 

Im Fazit... 


Covid-19 ist gefährlich, dies aber vor allem für über 70jährige. Die Impfkampagne sollte helfen, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Sind erstmal die über 70jährigen geimpft, werden wir in ruhigere Fahrwasser gelangen. Wenn wir bis dahin nicht viele weitere Opfer beklagen wollen, braucht es einen Lockdown hard. Aber niemand unter 70 muss sich grosse Sorgen machen. Vorsicht logisch, Respekt auch, aber keine Panik. Die führt ohnehin selten zu guten Entscheidungen.

...und zuletzt in eigener Sache


Im Jahr 2020 hatte ich mehrfach über Covid-19 geschrieben, jedes Mal aber mit einem grossen Respekt davor falsch zu liegen. 

Ich fragte mich immer wieder, wie es sein kann, dass so viel Intransparenz bestehen bleibt, wenn doch einige relevante Daten offiziell vorliegen. 

Mein Selbstbewusstsein, über Covid-19 zu schreiben, hat aber über die Zeit merklich zugenommen. Wenn ich sehe, dass ich im April 2020 aus den offiziellen Zahlen zum Ausbruch in New York City eine Letalität von um die 0,28% errechnet habe (wo manche Zeitungen ganz komische Wert von 5, 10 und mehr Prozent publizierten), wenn die Heinsberg-Studie 0,37% ermittelte, die WHO in ihrer Metastudie später 0,27% veröffentlicht, dann lag ich offenbar nicht so falsch. Wenn ich im Oktober 2020 prognostizierte, dass der Wellenbrecher-Lockdown in Deutschland nichts bringen wird, weil man Kitas, Schulen, Büros und den ÖV (leider!) nicht auslassen kann – auch dies auf Basis von offiziellen Daten, diesmal über Infektionsherde –, dann komme ich zum Schluss, dass man klarer sehen kann, wenn man will. Ich habe nachgeschaut und gerechnet, klassischer Dreisatz – sonst nichts. 

Warum fällt dies aber vielen Meinungsmachern so schwer? Schlamperei? Ich bin kein kategorischer Medienkritiker, ganz im Gegenteil. Die vierte Gewalt ist ein essentieller Bestandteil unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaften. Aber in Sachen Covid-19 gibt es offenbar zu heisse Eisen. Wie oft wurde über die Ergebnisse der WHO-Metastudie geschrieben, wie oft darauf hingewiesen, dass man nicht die getesteten, bekannten Infizierten (die ja nur ein Bruchteil aller Infizierten sind) ins Verhältnis zu den Todesfällen setzen kann? Wie oft wurde darauf hingewiesen, dass die Dunkelziffer gigantisch sein muss? Wie oft hat man die enorm unterschiedliche Gefahr von Covid-19 je nach Alter erwähnt? Wie genau hat man hingeschaut, um Infektionsherde zu verstehen? Man wird hier über die Bücher gehen müssen. Das war keine saubere Berichterstattung. Es wurde zu oft unzureichend und irreführend informiert. 

Covid-19 ist aber ein zu ernstes Thema, als dass wir im Nebel stochern sollten Es braucht mehr Transparenz. Und mehr Transparenz ist offensichtlich möglich. 

Rechtliches

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