Montag, 2. August 2021

Niedrigschwellig eine Entscheidung über Infektion versus Impfung treffen?

Ich bin geimpft. Ich denke, das sollte der Leser des folgenden Beitrags wissen. Mir geht es auch nicht um das pro und contra von Covid-19-Impfung. Mir geht es darum, dass mündige Menschen bewusste Entscheidungen treffen.


Meine Herzenskneipe in Köln bietet zusammen mit anderen Gastronomen einen „Drink für einen Pieks“. Coronaimpfung und dann gibt’s ein Gratis-Kölsch. Die Betreiber sind ganz grossartige Menschen und sie meinen es sicher gut. Aber wollen wir wirklich solche Entscheidungen mit einem Bier beeinflussen? Es zieht die Entscheidung auch zu sehr in das Spielerische. Dabei ist es eine Entscheidung zur Gesundheit. Und die sollte seriös getroffen werden.

Ob wir uns dieser Tage gegen Covid-19 impfen lassen oder nicht, ist nichts anderes als eine Wette. Wir schätzen das Risiko einer Infektion und daraus entstehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab gegen das Risiko einer Impfung, die etwa ein 3/4 Jahr auf dem Markt ist (die übliche Entwicklungsdauer eines Impfstoffs liegt bei vielen Jahren). Beides etwas ungewiss. Wir schätzen also. Keiner weiss. 

Wer kann in solch einer Situation die Verantwortung übernehmen, jemand anderem eine Impfung zu suggerieren? Man stelle sich den (sicherlich unwahrscheinlichen, aber möglichen) Fall vor, dass eine Covid-19 Impfung nun doch langfristige Nebenwirkungen hat, von denen wir heute noch nichts ahnen. Und dann haben wir die 25-jährige Frau kurz vor dem gemeinsamen Abend mit Freunden zwischen Tür und Angel und niederschwellig (und vielleicht noch mit empfundenen Gruppendruck ihrer Freunde) eine Impfung schmackhaft gemacht? Das sollte diese 25-jährige ganz alleine entscheiden und dies eher "hochschwellig", also nach ausreichender Abwägung des Für und Wider.

Ich würde durchaus gut finden, wenn die Gastronomie ein Kölsch ausgibt, aber nicht für den Pieks, sondern für die Teilnahme an einer kompetenten Diskussionsrunde zum Für und Wider einer Covid-19 Impfung. Denn es ist erschreckend, wie diese Entscheidungen in zumindest meinem Umfeld getroffen werden. Natürlich wissen wir noch nicht alles genau, wie zuvor erwähnt. Aber wir wissen viel mehr, als die meisten glauben. Man muss natürlich hinschauen.

Die Originaldaten von RKI (in Deutschland) und BAG (in der Schweiz) geben gute Einblicke. Geradezu hervorragend hier eine visuelle Darstellung der offiziellen BAG-ZahlenStudien von erstklassigen Universitäten lassen Tendenzen erkennen. Sie stimmen nicht immer überein. Und es kommen immer neue Erkenntnisse dazu. Aber gerade darum lohnt es sich, sie anzuschauen. In den USA setzt sich z.B. zur Zeit die Erkenntnis durch, dass man auch als Geimpfter mit Delta Infizierter aufpassen muss, denn man ist infiziert genau gleich ansteckend wie ein nicht Geimpfter (glücklicherweise infiziert man sich mit Impfung wohl nicht so leicht). Wer kennt diese Erkenntnis? Staunen in der Runde, wo immer man es auch anspricht. Natürlich ist das kein Argument für oder wider einer Impfung, denn man schützt sich ja insbesondere selbst. Das Ansteckungspotenzial ist eine zweite Erwägung. Aber es zeigt: Der Zauber ist nicht vorbei, wenn man geimpft ist und man muss weiter vorsichtig sein.

Dem gegenüber ist man immer wieder mit verrückten Aussagen konfrontiert, die zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema teilweise äusserst niederschwellig passiert. Da ist ein 82-jähriger Freund der Familie, der behauptet, er hätte noch immer alle Krankheiten in die Flucht geschlagen. Als wäre das eine Garantie, dass ihm das bei Covid-19 auch gelingt. Die Zahlen sprechen für sich. Ist man über 70, liegt das Covid-19 Risiko vermutlich im hohen einstelligen Prozentbereich, sehr bedrohlich, auch mit gutem Immunsystem gegen andere Krankheiten. 

Umgekehrt sitzt kürzlich bei uns der Arbeitskollege meiner Partnerin, Mitte 30, und ich frage ihn, wie viele der ca. 10,000 Todesfälle in der Schweiz denn in seine Altersgruppe fallen. "So um die 1000 werden es wohl sein", denkt er. Fernab der Realität, diese Einschätzung. Es sind deren 6 Todesfälle im Alter von 30-39 Jahren - und dies seit Beginn der Pandemie. Im Alter von 0-40 Jahren sind es 11 Männer und 6 Frauen, die in der Schweiz an oder mit COVID-19 verstorben sind. Offizielle BAG-Zahlen (wie es sie in Deutschland vom RKI gibt). Kann man einfach nachlesen und bei der persönlichen Gesamtbeurteilung einbeziehen.

Und dann - und da zieht es sich in mir zusammen - behauptet die Teenager-Tochter lieber Freunde doch glatt, in ihrer Schule hätten eigentlich alle, die sich infiziert haben, anschliessend „Long Covid“ - wo erst kürzlich eine Studie der Universität Zürich genau zu diesem Thema für 6- bis 16-Jährige veröffentlicht wurde, die zu einem komplett anderen Ergebnis kommt. Die NZZ schreibt zu den Erkenntnissen:


Keine Frage, Long Covid gibt es (wie auch Long Masern, Long Windpocken, etc.). Aber wichtig hier ist die Erkenntnis, wie gefährlich anekdotische Argumentationen sind („in meinem Umfeld ist es so…“). Das ist eben häufig statistisch nicht signifikant. 

Natürlich sollen all diese Menschen ihre Entscheidung frei fällen und diese ist zu akzeptieren. Aber wenn wir etwas tun müssen, dann den Einzelnen dazu zu bewegen, sich mehr mit dem Thema auseinanderzusetzen, damit eine kompetente Entscheidung getroffen wird. Ein Kölsch für die Auseinandersetzung mit Covid-19, nicht für den Pieks – das wäre eine gute Massnahme. Quellen miteinander austauschen, leidenschaftlich debattieren, die Argumente gegeneinander antreten lassen, ohne Phrasen, ohne unheilvolle Vereinfachungen, sondern sachbasiert. Das führt zu soliden Entscheidungen.

Und ja, eine höhere Impfquote würde helfen. Aber niemand sollte aus der Hüfte heraus eine solche Entscheidung treffen, eben niederschwellig. Aufklärung in den Schulen braucht es, am Arbeitsplatz, und ja, warum nicht auch in Veranstaltungen in der Gastronomie. Eine Auseinandersetzung mit dem, was an Informationen vorliegt. Und dafür dann gern ein Kölsch!








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