Ein Jahr leben wir nun mit COVID-19 in unseren Breitengraden. Die öffentliche Diskussion wird ruppiger, die Ungeduld nimmt zu, mehr und mehr Schuldzuweisungen. Aber müssen wir uns als Volk nicht an die eigene Nase packen? Wissen wir eigentlich, was wir wollen?
Stand heute gibt es zwei Modelle, die in sich Sinn zu machen scheinen, also in sich logisch sind:
Das neuseeländische Modell
Neuseeland fährt eine echte Zero-Covid-19-Strategie. Ein Infizierter in Auckland. Gleich wird alles dicht gemacht. Harter Lockdown. Der eine Infizierte reicht.
Kann man so machen. Wenn man es so macht, hat man besser seine Grenzen komplett dicht und eine End-Game-Strategie. Denn das Virus verschwindet ja nicht. Alle Anstrengung wäre für die Katz gewesen, wenn man einfach nur später all die Opfer einer Durchinfektion zu beklagen hätte, aber dann eben doch.
Die einzig sinnvolle End-Game-Strategie kann also nur heissen: man wartet auf medizinische Lösungen. Soll es ein Impfprogramm sein, müssten nahezu alle mitmachen. Besser wären Arzneimittel zur Behandlung im Falle einer Erkrankung. Das kann Jahre dauern. Neuseeland als Strategie müsste man also lang in dieser Schärfe durchhalten.
Der schwedische Weg
Verfolgt man diese Option, dann sieht man zu Beginn ein, dass man keine Chance hat, das Virus aus dem Land zu halten. Man kann das Leiden nur verlängern. In einem gewissen Masse muss es auch verlängert werden, um die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht überzustrapazieren. Dafür reichen aber überschaubare Massnahmen. Das gesellschaftliche Leben geht mehr oder weniger normal weiter. AHA-Regeln natürlich, keine Massenveranstaltungen mit Superspread-Potenzial. Aber offene Kitas, Schulen, Restaurants, Zoos. Testen, wenn jemand aus dem Ausland kommt. Testen überhaupt, wo immer möglich.
Nicht alles davon macht Schweden perfekt, aber für diesen Pandemie-Marathon hat Schweden schon am ehesten den Weg gefunden, der am besten durchhaltbsr ist. Die Restaurants schliessen um 20:30 Uhr, da geht's aber eher um das Verhindern von Trinkgelagen. Vor 20:30 Uhr sind sie uneingeschränkt offen.
Bieten wir als Volk der Exekutive denn nun die Möglichkeit, eine solch klare Strategie wie in Neuseeland oder Schweden zu formulieren? Würde die Strategie „Neuseeland“ gewählt, schreien die einen auf. „Seid Ihr verrückt, wegen einem Infizierten alles zu schliessen“ hiesse es. „Das funktioniert doch sowieso nicht, wir können die Grenzen nicht so abschotten wie das abgelegene Neuseeland ohne Landgrenze“ gäben die anderen zu bedenken. Bei den Gerichten würde bzgl. einstweiliger Massnahmen vorgesprochen.
Und beim schwedischen Weg? „Ihr lasst einfach tausende sterben, nur damit der Laden weiter läuft, wie brutal!“ würde von Vielen mit mahnendem moralischen Zeigefinger postuliert. „Ist das alles, was Ihr tun wollt?“ wäre die fordernde Frage hintendran. Die Schweiz hat es eine Weile versucht, einen ähnlichen Weg wie Schweden zu gehen. Der Druck von innen und aussen wurde immer grösser.
Wie man es auch macht, einen Grossteil der Bevölkerung hat man gegen sich. Nun könnte jemand anmahnen, dass es dann eben wahre Führung braucht. Führen gegen Urängste ist allerdings fast unmöglich. Also geht Schweden nicht. Und Neuseeland könnte man probieren, aber grob auf die Nase fallen, wenn z.B. die Verhältnismässigkeit von den Gerichten angemahnt und Massnahmen ausser Kraft gesetzt werden. Auch die Grenzen mögen sich als sehr porös erweisen.
Und so kommt in fast allen westlichen Nationen ein Mischmasch heraus, das uns enorme Opferzahlen beschert – einfach in Zeitlupe. Fast 10'000 Tote in der Schweiz, über 70'000 Tote nun in Deutschland. Und zugleich all die Einschränkungen. Das macht mürbe. Mit immer wieder neuen Ideen für Detailmassnahmen, seien sie noch so aberwitzig, versucht man, Entschlossenheit zu zeigen. Das gelingt aber mit der Zeit immer weniger. Die Beruhigungspillen wirken nicht mehr. Und am eigentlichen Verlauf der Pandemie ändert es nur die Geschwindigkeit. Sie schreitet dennoch weiter voran und durchseucht uns zu einem hohen Grad.
Das Modell "Neuseeland" sollte man nicht zu schnell als "nicht machbar" abtun. Wenn es einmal ein wahrhaftes Killer-Virus geben sollte – so infektiös wie Covid-19 und so tödlich wie Ebola –, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig als Neuseeland. Was sollte die Alternative sein? Weil Länder wie Neuseeland und Australien aufgrund ihrer Nähe zu Asien schon so manche ähnliche Situation erlebt haben, ist das Volk dort eher bereit, drastisch vorzugehen. Vielleicht hilft uns die Erfahrung mit Covid-19, es beim nächsten Mal auch zu sein. Es würde unser Leben aber schwer auf den Kopf stellen. Keine Import-Gurken mehr. Keine Besuche von Freunden und Verwandten im Ausland. Kein internationales Reisen. Alle Grenzen dicht, über Monate, wenn nicht Jahre. Es ist fast unvorstellbar, dass es funktioniert – im Falle eines Killervirus aber zwingend. Die Probe auf's Exempel bleibt uns hoffentlich erspart.
Covid-19 fordert hohe Opferzahlen, ist aber glücklicherweise kein Killervirus. Und so dürfen und müssen wir uns im Rückblick fragen, welche Massnahmen wirklich effektiv waren und welche eher nicht. Vergleicht man hier die Performance von Schweden mit der anderer europäischer Länder, fährt Schweden nicht so schlecht. Man liegt im Mittelfeld und würde wohl noch besser liegen, wenn die ungewöhnlich grossen Ausbrüche in Altersheimen zu Beginn der Pandemie hätten vermieden werden können. Da wurde man in Schweden auf dem falschen Fuss erwischt.