Dienstag, 2. Mai 2017

Die letzten Zuckungen einer Ära

Zukunft passiert an einem anderen Ort



Der Mönch in Bhutan schaute gespannt, wie Jean-Claude van Damme den Gegner zerlegte. Ich traute meinen Augen nicht. Hier oben, fernab von Hollywood, wo die Welt noch in Ordnung sein sollte, trieb der belgische Street Fighter sein Unwesen. Und der Mönch war komplett reingezogen ins Geschehen.

Andere Bhutaner schildern uns, welche Magnetwirkung das Internet auf ihre Kinder hat. Fernab in tiefen Tälern, wo lokales Brauchtum bis vor Kurzem noch unchallenged war, nimmt das Heute übernacht Einzug. Wir mögen dies traurig finden, uns diese Menschen lieber in abgeschotteten Biotopen ihre alte Lebensweise weiter pflegen sehen wollen. Aber hat das nicht etwas von Zoo? Lässt man den Betroffenen die Wahl, sie entscheiden sich grossmehrheitlich für die Moderne.

Wir sollten nicht im Ansatz traurig darüber sein. Subkultur hin oder her, von Hollywood über MTV bis zum Internet, all dies prägt uns enorm. Und es hat etwas Vereinendes, ja friedenstiftendes Potenzial. Rund um die Welt wächst eine Jugend heran, die sämtliche Grenzen überkommen kann – und dies zu einem grossen Teil tut. Meine Nichte, deutsch-spanischen Ursprungs elterlicherseits, spricht im Schweizer Dialekt mit ihrer Freundin aus der Schule, sie wurde seit ihrer frühen Kindheit von einer muslimischen Nanny betreut, und als sie mit ihren Fahrradkolleginnen bei uns einen Zwischenstopp machte, war die Welt zu Besuch, ein bunter Mix von überall. Herkunft, Religion, Bräuche sind weiter spannend, aber sie spielen keine Rolle bei der Auswahl von Freunden. All das ist nur Lametta. Was zählt, ist der Baum, der eigentliche Mensch.

Filmwechsel: Mit Spannung und Sorge schauen liberale Geister auf die Wahlerfolge von Farage und Trump. Le Pen tritt an, mag nicht siegen und Präsidentin werden, aber vermutlich +/- 40% der französischen Wähler auf sich vereinen. Trump hatte nicht viel mehr. Das Wahlsystem war einfach ein anderes. Wie dem auch sei, es scheint, als würde eine gute Hälfte der Bevölkerung ­– und manchmal etwas mehr – ein chauvinistisch geprägtes Weltbild teilen. Der Schein trügt. Nehmen wir die Wahl in den USA. Das Land hat 325 Mio. Einwohner. Gerade einmal 45% der Bevölkerung wählte und 18%, entsprechend 59 Mio. Einwohnern, wählten Donald Trump. Natürlich ist das Demokratie. Trump hat gewonnen. Aber wir müssen nicht von einem nachhaltigen mehrheitlichen Trend in der Bevölkerung nach rechts sprechen.

Was wir derzeit erleben mit, die Phänomene Trump, Farage, Le Pen, dies sind die letzten Zuckungen einer Ära, deren Zeit bald Vergangenheit ist. Wer erleben will, wie die Zukunft aussieht, dem empfehle ich, mal einen Nachmittag mit der jugendlichen Nichte oder dem Enkel zu verbringen. Schnell wird klar, dass hier etwas ganz anderes im Werden ist. Und es ist etwas Grundliberales, Weltoffenes.

Die Basis der Gestrigen ist vielleicht jetzt noch einmal gross genug, um einen Akzent zu setzen. Und der Schaden, der dabei angerichtet werden kann, ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, keinesfalls. Es lohnt sich, entschieden gegen diese rückwärtsgerichteten Tendenzen der Abgrenzung und Abschottung zu kämpfen, um Schlimmeres zu verhindern. Wir wissen aus der Vergangenheit, in welche tragischen Sackgassen Bevölkerungen laufen können, auch demokratisch legitimiert. Aber der Liberalismus ist nicht tot. Der Langfristtrend ist eindeutig. Als sich 1977 der Deutsche Bank-Chef Alfred Herrhausen und seine damalige Ehefrau trennten, bedeutete dies noch eine gewisse gesellschaftliche Isolation. Vom seinerzeitigen Aufsichtsratschef der Bank, Hermann Josef Abs, erzählte man sich, er hätte den geschiedenen CEO nicht mehr nach Hause eingeladen. Nur zwei Jahrzehnte später, 1998, wurde Gerhard Schröder mit seiner vierten (!) Ehefrau deutscher Bundeskanzler. Und nach einem kompletten Generationensprung, im Jahr 2009, wurde Deutschland regiert von einer Frau, der Finanzminister sass im Rollstuhl, der Aussenminister war homosexuell und der Gesundheits- und spätere Wirtschaftsminister asiatischer Herkunft. Ein bunteres Bild an der Spitze eines Landes könnte man sich kaum vorstellen. Und die meisten von uns bemerken es nicht einmal. Es ist absolut normal. Und das ist gut so.

Grey Hair strikes back könnte man nun meinen, blond getönt, aber sehr grau in den Ansätzen. Trump & Co schlagen Wellen, doch die viel stärkere Unterströmung ist grundfreiheitlich. Sie definiert eine neue Art von Leben. Und die ist progressiv, eine Weiterentwicklung.

Wir erleben die letzten Zuckungen eines Lebensmodells, das ausgedient hat. Und das wissen auch viele, die derzeit reaktionär wählen. Sie klammern sich an etwas, was es nicht mehr gibt. Sie verstehen Instagram nicht und finden Tinder abscheulich. Sie haben Sorge, in der neuen digitalen Welt bestehen zu können. Aber sie haben eigentlich nichts auf der 1:1 Ebene gegen eine Person, die ein Kopftuch trägt. Sie dient nur als Projektion. Das musste die jüdische Bevölkerung einmal tragisch erleben. Und wir dürfen, wie zuvor erwähnt, nicht zulassen, dass wir je nochmals in eine solch schreckliche Sackgasse fahren, bevor wir in einer bessere, weiterentwickelte Welt eintreten. Aber genau darum muss es gehen: Eine temporäre Fehlentwicklung vermeiden. Das reicht dann zugleich auch. Die Zukunftsthemen müssen wir unabhängig davon setzen und dabei das grosse Ganze nicht aus den Augen verlieren. Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz – das sind Herausforderungen, die eines gesellschaftlichen Diskurses bedürfen, für die wir Rahmenbedingungen brauchen, weil die heutigen ohne Verwerfungen nicht weiter funktionieren werden (siehe auch Blog: Auf dem Weg zur 20-Stunden-Woche).


Wir müssen ausreichend Energie für die Gestaltung der Zukunft aufwenden. Wir dürfen nicht wie ein Reh paralysiert im Lichtkegel des Scheinwerfers stehen und dabei das, was unsere Gesellschaft fundamental prägen wird in den kommenden 20-30 Jahren, vernachlässigen. Nochmals: Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz – all das sind keine auf die leichte Schulter zu nehmenden Themen. Lassen wir Trump über das Wiederaufleben von Kohle und Stahl reden. Aber selbst sollten wir einen wesentlichen Teil unserer Ressourcen auf die Zukunftsgestaltung ausrichten, wie es die USA jenseits von Trump ja auch tun. Es ist einfach etwas Sand im Getriebe. Gefährlicher Sand, der muss da weg. Aber das darf uns nicht absorbieren. Die wesentlichen Themen der Zukunft sind andere.

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