Dienstag, 6. Dezember 2016

Der Chinesenknopf

Kürzlich trug ich in einer Runde von Freunden das folgende Gedankenspiel vor: Da gibt es eine Kabine. Was darin passiert, erfährt niemand. In der Kabine ist ein Knopf. Drückt jemand diesen Knopf, werden ihm automatisch 1 Million CHF auf sein Konto überwiesen. Aber fernab in China fällt zugleich irgendwo ein Chinese tot um. Meine Frage in die Runde war sodann, wieviel Prozent unserer Bevölkerung in diesem Szenario wohl den Knopf drücken würden.

Die Schätzungen lagen zwischen 30 und 80%. Ich war schockiert. Gemäss dieser Schätzungen leben wir in einer Welt voller potenzieller Mörder. Denn um nichts anderes würde es sich dabei handeln. Vielleicht ist das die nüchterne Wahrheit. Wenn man keine Sanktion befürchten muss, würde dann ein Grossteil unserer Bevölkerung irgendeinen unschuldigen Menschen fernab der Heimat sterben lassen, um sich selbst zu bereichern? Die Debatte darüber faszinierte und erschauderte uns zugleich.

Nun ist das Gedankenspiel glücklicherweise reine Fiktion. Und wir mögen mit unseren Einschätzungen auch alle irren. Sicher aber zeigt das Ergebnis, was wir selbst von der Existenz innerer moralischer Standards halten. Wir halten wenig davon. Wir müssen davon ausgehen, dass unsere ach so ziviliserten Gesellschaften ohne klare Spielregeln und Sanktionen beim Nichteinhalten derselben schnell auf verlorenem Posten wären. Das Fundament dieser Spielregeln sind unsere Gesetze, ein über eine lange Zeit fein ausgeklügeltes System gesellschaftlichen Miteinanders, das de facto hervorragend funktioniert. In der Schweiz werden auf ca. 8 Mio. Einwohner pro Jahr keine 50 Menschen ermordet, in Deutschland sind es bei der ca. 10fachen Bevölkerung unter 500. Sinkt die Rate weiter, werden in unseren Breitengraden irgendwann weniger Menschen in der Realität umgebracht als im TV bei Tatort, Soko & Co.

Wir leben also sehr friedlich miteinander. Die Gesetze allein bewirken dies allerdings nicht. Gesetze sind wertlos, wenn die gelebten Spielregeln in einer Gesellschaft andere sind. Wie schnell alles kippen kann, haben wir mitten im Europa, im damaligen Jugoslawien, in den 1990er Jahren erlebt. Inhalt der Auseinandersetzungen mögen regionale, ethnische und religiöse Differenzen gewesen sein. Doch die Gräueltaten, die später vor dem Den Haager Kriegsgerichtstribunal aufgearbeitet wurden, in Srebrenica und anderswo, folgen einer scheinbar unausweichlichen Logik der Eskalation. Menschen, die noch Monate zuvor friedlich zusammen lebten, werden auf einmal zu Ungeheuern. Und auch rückwärts funktioniert der Prozess, wie man nach dem Dritten Reich so eindrücklich sah. Ein Volk, das Massenvernichtung betrieb, lebte auf einmal wieder friedlich miteinander und im Bund der Völker – als hätte sich ein Schalter umgekehrt.

Warum ist das alles jetzt so relevant? Nun, wir leben in einer Zeit, in der unseren politischen Systemen ein ungesund blindes Vertrauen geschenkt wird. Das Pendel schwenkte mit der Weltwirtschaftskrise ab 2007. Die Bankenrettungen in vielen westlichen Staaten führten zu einer enormen Staatsgläubigkeit. Es kamen Eurokrise, Flüchtlingsdebatte und Terrorismus dazu. Der Ruf nach einem starken Staat wurde immer lauter.

Dazu passt auch, dass ein Grossteil der Bevölkerung Zukunftssorgen plagt. Was immer die Gründe für diese Sorgen sein mögen, berechtigt oder nicht, Politiker mit totalitären Zügen werden immer wählbarer. Man kann heute ungestraft von Waterboarding sprechen und dennoch gewählt werden. Man kann dunkelhäutige Fussballer als Nachbar in Frage stellen, es disqualifiziert nicht für weiteres politisches Handeln. Erst kleine, dann immer grössere Tabubrüche – so hat es immer begonnen. Und immer auch, wenn es schiefging, wurden die Zeichen zu spät erkannt.

Nun stehen wir nicht kurz vor der Übernahme unserer freiheitlich-demokratischen Staaten durch totalitäre Herrscher. Und es gibt auch gute Gründe zu glauben, dass wir da gerade eine unschöne Phase erleben und unsere demokratischen Systeme robust genug sind, diese durchzustehen. Aber es kann auch kippen. Eine ungünstige Serie von Ereignissen, zum Beispiel der dominosteinartige Wirtschaftskollaps europäischer Nationen, könnte eigentlich Unwählbare wählbar machen. Eine Art Chinesenknopf würde gedrückt, mit Ausgrenzung, Schuldzuweisung, Verfolgung.

Wir können solche Entwicklungen nicht komplett verhindern. Was wir aber tun könnten, ist, dem Staat nicht zu viel Macht über sein Volk zu geben. Der Ruf nach mehr Überwachung kann ein grosses Eigentor werden. Sascha Lobo sprach in einem hervorragenden Spiegel-Artikel von einer fatale Mischung aus Überwachungswahn, hektischen Aktionismus und Sicherheitsesoterik. Wir lassen den Aufbau von Kontrollsystemen zu, die besser nicht in die falschen Hände geraten. Vermutlich bereut heute schon so mancher Türke, der sich vor wenigen Jahren noch im recht freiheitlichen, säkularen Istanbul lebte, dass er seine Kontakte in Facebook, LinkedIn oder Xing offenlegte. Es sind solche kleinen Dinge, die fatale Folgen haben können. Der Istanbuli muss hoffen, nicht zu viele Anhänger der Gülen-Bewegung (die Kunde geht, dass man mit Gülen dieser Tage in der Türkei besser nicht assoziiert wird) unter seinen Social Media-Kontakten zu haben. Sonst geht es ihm wahrscheinlich nicht gut.  

Wir müssen darauf achten, dass die notwendigen Checks & Balances in unseren freiheitlich-demokratischen Systemen stabil funktionieren und die Macht des Staates über das Schicksal seiner Bürger nicht zu gross wird. Sie muss nicht immer in den Händen guter Menschen landen. Und wir müssen uns immer bewusst sein, wie wichtig es ist, dass wir Tabubrüche nicht zulassen, zu unserem eigenen Schutz. Wir brauchen gelebte Spielregeln, um Chinesenknöpfe ein theoretisches Gedankenspiel bleiben zu lassen. Tabubrüche können Spielregeln aushebeln. Darum dürfen wir sie nicht akzeptieren. Aussagen zur Trump-Wahl wie „Jetzt müssen wir ihm doch mal eine Chance geben“ halte ich für grundverkehrt. Die Amerikaner müssen, sie haben ihn gewählt. Und natürlich sollten auch wir das Notwendige mit einer Trump-Regierung besprechen und erledigen. Aber wir müssen nicht betont charmant sein. Wir haben es hier mit Tabubrechern zu tun, die die Klaviatur der Demagogie beherrschen und ohne Skrupel ausspielen. Wir können nicht wollen, dass solche Politpersönlichkeiten erfolgreich sind, auch wenn dies für eine gewisse Zeit Stillstand bedeutet. Es steht zu viel auf dem Spiel.

Denn wir haben etwas Grossartiges geschaffen, das zu Zeit unfassbar schlecht geredet wird. Wir leben in der westlichen Welt frei von Konflikten, auf einem sehr hohen Niveau, mit grossen Freiheiten und im Grossen und Ganzen gut funktionierenden demokratischen Systemen. Natürlich, wir werden Irrwege beschreiten, in Sackgassen fahren, neue Lösungen finden müssen. Aber das ist nichts anderes als die Häutung der Schlange. Sie lebt glücklich weiter danach. Temproäre Krisen gehören einfach dazu. Nachher war es bisher immer besser als vorher. Und das wird auch in Zukunft so sein. Aber wir müssen unsere Systeme pflegen. Denn wie sagte der 3. Marquess of Salisbury 1857 so treffend über unsere Menschennatur:

„Dünn ist die Kruste der Zivilisation über der kochenden Lava menschlicher Leidenschaften“


Daran sollten wir immer denken.


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