Kürzlich
trug ich in einer Runde von Freunden das folgende Gedankenspiel vor: Da
gibt es eine Kabine. Was darin passiert, erfährt niemand. In der Kabine ist ein
Knopf. Drückt jemand diesen Knopf, werden ihm automatisch 1 Million CHF auf
sein Konto überwiesen. Aber fernab in China fällt zugleich irgendwo ein Chinese
tot um. Meine Frage in die Runde war sodann, wieviel Prozent unserer
Bevölkerung in diesem Szenario wohl den Knopf drücken würden.
Die
Schätzungen lagen zwischen 30 und 80%. Ich war schockiert. Gemäss dieser Schätzungen
leben wir in einer Welt voller potenzieller Mörder. Denn um nichts anderes
würde es sich dabei handeln. Vielleicht ist das die nüchterne Wahrheit. Wenn
man keine Sanktion befürchten muss, würde dann ein Grossteil unserer Bevölkerung
irgendeinen unschuldigen Menschen fernab der Heimat sterben lassen, um sich
selbst zu bereichern? Die Debatte darüber faszinierte und erschauderte uns
zugleich.
Nun
ist das Gedankenspiel glücklicherweise reine Fiktion. Und wir mögen mit unseren
Einschätzungen auch alle irren. Sicher aber zeigt das Ergebnis, was wir selbst
von der Existenz innerer moralischer Standards halten. Wir halten wenig davon. Wir
müssen davon ausgehen, dass unsere ach so ziviliserten Gesellschaften ohne klare Spielregeln und Sanktionen beim
Nichteinhalten derselben schnell auf verlorenem Posten wären. Das Fundament
dieser Spielregeln sind unsere Gesetze, ein über eine lange Zeit fein ausgeklügeltes
System gesellschaftlichen Miteinanders, das de facto hervorragend funktioniert.
In der Schweiz werden auf ca. 8 Mio. Einwohner pro Jahr keine 50 Menschen
ermordet, in Deutschland sind es bei der ca. 10fachen Bevölkerung unter 500. Sinkt
die Rate weiter, werden in unseren Breitengraden irgendwann weniger Menschen in
der Realität umgebracht als im TV bei Tatort, Soko & Co.
Wir
leben also sehr friedlich miteinander. Die Gesetze allein bewirken dies
allerdings nicht. Gesetze sind wertlos, wenn die gelebten Spielregeln in einer
Gesellschaft andere sind. Wie schnell alles kippen kann, haben wir mitten im
Europa, im damaligen Jugoslawien, in den 1990er Jahren erlebt. Inhalt der
Auseinandersetzungen mögen regionale, ethnische und religiöse Differenzen
gewesen sein. Doch die Gräueltaten, die später vor dem Den Haager
Kriegsgerichtstribunal aufgearbeitet wurden, in Srebrenica und anderswo, folgen
einer scheinbar unausweichlichen Logik der Eskalation. Menschen, die noch
Monate zuvor friedlich zusammen lebten, werden auf einmal zu Ungeheuern. Und
auch rückwärts funktioniert der Prozess, wie man nach dem Dritten Reich so
eindrücklich sah. Ein Volk, das Massenvernichtung betrieb, lebte auf einmal
wieder friedlich miteinander und im Bund der Völker – als hätte sich ein
Schalter umgekehrt.
Warum
ist das alles jetzt so relevant? Nun, wir leben in einer Zeit, in der unseren
politischen Systemen ein ungesund blindes Vertrauen geschenkt wird. Das Pendel
schwenkte mit der Weltwirtschaftskrise ab 2007. Die Bankenrettungen in vielen
westlichen Staaten führten zu einer enormen Staatsgläubigkeit. Es kamen
Eurokrise, Flüchtlingsdebatte und Terrorismus dazu. Der Ruf nach einem starken
Staat wurde immer lauter.
Dazu
passt auch, dass ein Grossteil der Bevölkerung Zukunftssorgen plagt. Was immer die
Gründe für diese Sorgen sein mögen, berechtigt oder nicht, Politiker mit totalitären
Zügen werden immer wählbarer. Man kann heute ungestraft von Waterboarding
sprechen und dennoch gewählt werden. Man kann dunkelhäutige Fussballer als
Nachbar in Frage stellen, es disqualifiziert nicht für weiteres politisches
Handeln. Erst kleine, dann immer grössere Tabubrüche – so hat es immer begonnen.
Und immer auch, wenn es schiefging, wurden die Zeichen zu spät erkannt.
Nun stehen
wir nicht kurz vor der Übernahme unserer freiheitlich-demokratischen
Staaten durch totalitäre Herrscher. Und es gibt auch gute Gründe zu glauben, dass wir da gerade eine unschöne
Phase erleben und unsere demokratischen Systeme robust genug sind, diese
durchzustehen. Aber es kann auch kippen. Eine ungünstige Serie von Ereignissen,
zum Beispiel der dominosteinartige Wirtschaftskollaps europäischer Nationen,
könnte eigentlich Unwählbare wählbar machen. Eine Art Chinesenknopf würde
gedrückt, mit Ausgrenzung, Schuldzuweisung, Verfolgung.
Wir
können solche Entwicklungen nicht komplett verhindern. Was wir aber tun
könnten, ist, dem Staat nicht zu viel Macht über sein Volk zu geben. Der Ruf
nach mehr Überwachung kann ein grosses Eigentor werden. Sascha Lobo sprach in einem hervorragenden Spiegel-Artikel von einer fatale Mischung aus Überwachungswahn, hektischen Aktionismus und Sicherheitsesoterik.
Wir lassen den Aufbau von Kontrollsystemen zu, die besser nicht in die falschen
Hände geraten. Vermutlich bereut heute schon so mancher Türke, der sich vor
wenigen Jahren noch im recht freiheitlichen, säkularen Istanbul lebte, dass er
seine Kontakte in Facebook, LinkedIn oder Xing offenlegte. Es sind solche
kleinen Dinge, die fatale Folgen haben können. Der Istanbuli muss hoffen, nicht
zu viele Anhänger der Gülen-Bewegung (die
Kunde geht, dass man mit Gülen dieser Tage in der Türkei besser nicht
assoziiert wird) unter seinen Social Media-Kontakten zu haben. Sonst geht es
ihm wahrscheinlich nicht gut.
Wir
müssen darauf achten, dass die notwendigen Checks & Balances in unseren
freiheitlich-demokratischen Systemen stabil funktionieren und die Macht des
Staates über das Schicksal seiner Bürger nicht zu gross wird. Sie muss nicht
immer in den Händen guter Menschen landen. Und wir müssen uns immer bewusst
sein, wie wichtig es ist, dass wir Tabubrüche nicht zulassen, zu unserem
eigenen Schutz. Wir brauchen gelebte Spielregeln, um Chinesenknöpfe ein
theoretisches Gedankenspiel bleiben zu lassen. Tabubrüche können Spielregeln
aushebeln. Darum dürfen wir sie nicht akzeptieren. Aussagen zur Trump-Wahl wie „Jetzt
müssen wir ihm doch mal eine Chance geben“ halte ich für grundverkehrt. Die Amerikaner müssen, sie haben ihn gewählt. Und natürlich sollten auch wir das Notwendige mit einer Trump-Regierung besprechen
und erledigen. Aber wir müssen nicht betont charmant sein. Wir haben es hier
mit Tabubrechern zu tun, die die Klaviatur der Demagogie beherrschen und ohne Skrupel ausspielen. Wir können nicht wollen, dass solche Politpersönlichkeiten
erfolgreich sind, auch wenn dies für eine gewisse Zeit Stillstand bedeutet. Es
steht zu viel auf dem Spiel.
Denn wir haben etwas Grossartiges geschaffen, das zu Zeit unfassbar
schlecht geredet wird. Wir leben in der westlichen Welt frei von Konflikten,
auf einem sehr hohen Niveau, mit grossen Freiheiten und im Grossen und Ganzen gut
funktionierenden demokratischen Systemen. Natürlich, wir werden Irrwege
beschreiten, in Sackgassen fahren, neue Lösungen finden müssen. Aber das ist
nichts anderes als die Häutung der Schlange. Sie lebt glücklich weiter danach.
Temproäre Krisen gehören einfach dazu. Nachher war es bisher immer besser als
vorher. Und das wird auch in Zukunft so sein. Aber wir müssen unsere Systeme
pflegen. Denn wie sagte der 3. Marquess of Salisbury 1857 so
treffend über unsere Menschennatur:
„Dünn ist die Kruste der Zivilisation über der kochenden Lava menschlicher
Leidenschaften“
Daran sollten wir immer denken.