Donnerstag, 15. Oktober 2020

Verreist!

Es war abzusehen und niemand hätte es anders erwarten sollen: jetzt, wo Herbst und Winter vor der Tür stehen, wird sich COVID-19 wieder vermehrt verbreiten. Und weil das Virus sich nunmehr flächendeckend etabliert hat, geschieht das mehr oder weniger überall. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen. 

Wir haben keine andere Wahl, als mit dem Virus leben zu lernen. Er ist Teil unseres gesellschaftlichen Seins geworden. Und vermutlich lässt er sich nicht komplett stoppen, nicht mal mit einem Lockdown. Sobald dieser vorbei ist, kommt das Virus zurück. 

Und auch teilweise Schliessungen bringen nur begrenzt etwas. Wenn man ein Schiff mit zehn Löchern hat, nützt es eben nur begrenzt, drei davon zu stopfen, man gewinnt so Zeit. Stopft man sieben Löcher, hat man noch mehr Zeit. Und man sollte möglichst die grossen Löcher erwischen. So oder so, bahnt sich das Wasser seinen Weg, einfach in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. 

Um eine ungehemmte Ausbreitung des Virus zu vermeiden, braucht es einen langen Atem. Massnahmen müssen geeignet sein für den Marathon „Viruseindämmung“. Es ist kein Kurzstreckenlauf. 

Und es braucht Vertrauen. Vertrauen entsteht aber nicht, wenn undifferenzierten Mist erzählt wird. Noch gut in Erinnerung ist die Anfangszeit der Pandemie, in der gesagt wurde, Masken nützen nichts - genau die Masken, deren Nichttragen in gewissen Situationen dieser Tage bis zu 250 € Strafe kosten sollen. Es ist absolut richtig, es muss richtig weh tun, wenn man sich nicht an die grundlegenden Regeln zur Viruseindämmung hält (Abstand, Maske, Outdoor statt Indoor, wo immer möglich, etc.). Aber der Punkt hier ist das Vertrauen. Und das wurde erstmals beschädigt durch die Episode mit den Masken. Es mag aus Sicht der handelnden Politiker gute Gründe für diese anfängliche Irreführung gegeben haben (der Grund mag gewesen sein, dass wir nicht genug Masken hatten). Aber für mich kommt es in einer freiheitlichen Demokratie, wo wir Politiker wählen und auf die Finger schauen können müssen, nicht infrage, dass sie entscheiden, wann sie uns verkohlen, selbst für einen guten Zweck.

Auch dieser Tage postulieren einige Protagonisten Mythen, die immer und immer wiederholt werden, aber einfach nicht stimmen. Zeit, damit aufzuräumen - nicht, um verantwortungslos zu sein, sondern um klar zu sagen, was Sache ist. Ohne dass weiss sonst bald keiner mehr, was richtig und falsch ist.

Hier beispielhaft zwei Mythen rund um das Reisen.

Mythos 1: Reisen ist ein wesentlicher Infektionsherd

Die grössten „Löcher im Schiff“ bzgl. COVID-19, also die grössten Ansteckungsherde, sind nun, da das Virus breit diffundiert ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz woanders:
- die privaten Haushalte (der eigene und der von Familie und Freunden) und 
- der Arbeitsplatz.



aus: https://www.zh.ch/de/gesundheit/coronavirus/zahlen-fakten-covid-19.html, abgerufen 14.10.2020

Etwas Vorsicht ist bei dieser Statistik angebracht und man möge die unter dem angegebenen Link Qualifikationen dazu lesen. Nur ca. ein Viertel der Infizierten wissen, wo sie sich angesteckt haben. Und das sind Daten für den Kanton Zürich. Aber ich sehe 
keinen Grund, warum das nicht anderswo mehr oder weniger so gelten sollte. 

Wenn man sich nun diese Zahlen ansieht, stellt man klar fest: Reisen macht in diesen Tagen offenbar einen sehr kleinen Teil der Infektionen aus. Eigentlich müsste man klar sagen: der Löwenanteil der Infektionen kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit von ganz woanders, die beiden grössten „Löcher“ sind andere - und nicht wirklich gut zu schliessen: 

- Die privaten Haushalte kann man nicht einfach abschaffen. Und Mama und/oder Papa gehen zur Arbeit, die Kinder treffen andere solche. Einfach niemanden mehr sehen - keine Familie, keine Freunde, nicht mal zuhause, das halten auch nur sehr spezielle Freaks lang durch. Der normale Mensch braucht soziale Kontakte. Und so wird der grösste Infektionsherd wohl eine Realität bleiben: die privaten Haushalte sorgen vermutlich für die grösste Ausbreitung, nicht die zwei Wochen in der Finca im Urlaub.

- Gleiches beim Arbeitsplatz. Dort hat sich wohl für Einige das Home Office etabliert. Aber eine Menge von Jobs lassen sich einfach nicht von zu Hause machen. Und dann gibt es leider immer noch Unternehmen, die glauben, die Mitarbeiter müsste man vor den eigenen Augen im Büro arbeiten lassen. Die letzten Monate sollten das Gegenteil bewiesen haben. Solch eine Ignoranz ist natürlich sträflich. Eine ausgelassene Chance, die Virusausbreitung einzudämmen - eine viel grössere, als das Reisen zu stigmatisieren.

Wir müssen wohl akzeptieren: die grössten „Löcher im Schiff“ können wir nicht gut schliessen. Stellen wir uns besser darauf ein, das Virus breitet sich aus. Aber Menschen das Reisen zu vermiesen oder gar zu verbieten, macht wenig Sinn. Klar, Party in einer engen Spelunke im Urlaub, das geht gar nicht. Das geht aber auch zuhause nicht. Viele Menschen wollen sich aber einfach nur erholen im Urlaub, meist im Freien, in der Natur. Das erscheint sicherer als das typische Leben mit Arbeit zuhause, siehe Ststistik oben. Man sollte das auch so sagen. Jeder, der dieser Tage Zürich, München oder Köln verlässt, um irgendwo in der Idylle einen Urlaub zu machen, ist wahrscheinlich dort sicherer und trägt eher zur Reduktion der Infektionen bei, als dass er sie dadurch erhöht. Im Grossraumbüro des Arbeitgebers jedenfalls ist er ein grösseres Risiko als beim Strandspaziergang an der frischen Luft. Wir so aber nicht gesagt. Warum?

Mythos 2: Die Sommerurlaub-Rückkehrer haben aber doch gezeigt, dass Reisen gefährlich ist 

Ja und Nein. So einfach ist das nicht. Das Robert-Koch-Institut fertigte eine Statistik an, aus welchen Ländern in den Kalenderwochen 30-33 (also nach den Sommerferien) Reiserückkehrer kamen. Und was sieht man da? Relevant sind wohl eher nicht die, die mit ihrer Familie einen klassischen Urlaub gemacht haben. sondern die, die ihre Familien im alten Zuhause im Ausland besuchten.

 
aus:
https://de.statista.com/infografik/22623/anzahl-der-corona-infektionen-im-ausland-nach-laendern/


Hier zum Vergleich, hier die typischen Urlaubsländer der Deutschen: 


aus: 
https://de.statista.com/infografik/13136/reiseabsicht-und-reiseziele-der-deutschen/


Passen irgendwie nicht zusammen, die beiden Tabellen, oder? Die Länder, aus denen die meisten Infektionen zurückgebracht wurden, sind mehrheitlich nicht die Top-Urlaubsdestinationen. 

Bitte nun nicht falsch verstehen: Jedem sei vergönnt, in der alten Heimat seine Familie zu besuchen. Der Autor selbst tut das regelmässig grenzüberschreitend. 

Man sollte aber darum die urlaubswillige Familie nicht kopfscheu machen, die ansonsten einen unbedenklichen Strandurlaub gemacht hätte. Genau das passiert aber. Man richtet einen grossen Scherbenhaufen an durch das undifferenzierte Kommunizieren zu COVID-19. Die Reisebranche liegt danieder. Und geholfen hat es wenig, wenn man sich die obigen Zahlen des Robert-Koch-Instituts anschaut. Denn die, die ihre Familien zuhause besuchen wollten, haben sich davon vermutlich weitgehend nicht abhalten lassen. Aber die, die nun Angst hatten, einen an sich unbedenklichen Urlaub zu machen, blieben oft zuhause. 

Was wir derzeit – neben vielen sehr sinnvollen Massnahmen – sehen, ist ein hilfloses Stochern im Nebel, um zu zeigen, was man alles tut. Einige „Löcher“ können aber nicht abschliessend gestopft werden (Haushalt, Arbeit). Und da muss man nicht auf Nebenkriegsschauplätze wie das Reisen ausweichen. 

Es muss aufhören, dass diese Mythen in die Welt gesetzt werden. Und auch diese Kindergartensprache eines Markus Söder ist auf Dauer nicht zielführend. Wir sind erwachsene Menschen. Und wir müssen den Realitäten in die Augen schauen dürfen. Das verlangt von uns als Bevölkerung natürlich umgekehrt auch, dass wir nicht kopfscheu werden. Entschlossen und verantwortungsvoll handeln ja. Aber nicht wie ein Reh im Lichtkegel erstarren,

Und nur, um dies zu verhindern, erwähne ich abschliessend die folgenden Zahlen: Aufgrund Corona sterben in 2020 in der Schweiz vermutlich 2’500-5000 Menschen und in Deutschland 12‘000-20‘000. Jedes einzelne Schicksal ist ein trauriges Schicksal. Aber wie sollte man diese Zahlen für sein eigenes „Angstbarometer“ ins Verhältnis setzen? Hier ein paar Zahlen, die kaum erwähnt werden:

- in der Schweiz sterben jedes Jahr um die 67‘000 Menschen, davon ca. 38%, also ca. 25‘000 Menschen vor dem 80sten Lebensjahr, was dann wohl spezielle Gründe hatte, weil nicht die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht wurde. Diesen 25'000 stehen die 2’500-5000 Menschen gegenüber, die an oder mit COVID-19 verstarben. 
- in Deutschland ist es noch extremer: Von den ca. 940‘000 Verstorbenen jährlich sterben um die 55 % im Alter unter 80, also circa 550’000 Menschen, die aus irgendeinem Grund nicht die durchschnittliche Lebenserwartung erleben durften. Und hier wiederum stehen diesen 550’000 vorzeitig Verstorbenen die vermutlich 12,000-20,000 an oder mit COVID-19 Verstorbenen gegenüber. 

Dies sind grobe Zahlen. Und auch wenn man über 80 ist, will man gern so lang leben wie möglich. Aber der Zweck hier ist, COVID-19 in Perspektive zu rücken Jeder Einzelfall ist tragisch und ein trauriger Einzelfall zu viel. Aber es ist dennoch wichtig zu realisieren, dass COVID-19 kein "Game Changer" ist, wenn wir das Mass an Infektionen für die Krankenhäuser verkraftbar halten. Die Krankenhäuser operativ zu halten, das muss wirklich ein zentrales Ziel sein. Wir wollen keine Schwerkranken in Turnhallen. 

Aber es gilt dennoch zugleich, differenziert vorzugehen. Wir müssen jetzt ganz allgemein die Kontakte reduzieren, in unseren Haushalten, am Arbeitsplatz, etc. Reisen per se zu verteufeln erzeugt vielleicht Applaus von der Galerie, ist aber nicht angebracht. Wer etwas anderes behauptet, möge dies herleiten und belegen, ansonsten möge er verreisen...

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